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Die Anstalt

Die Anstalt

Titel: Die Anstalt
Autoren: John Katzenbach
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nach meiner Erinnerung einmal die Hauptverwaltung befunden hatte. Den Vortrag um diese Zeit sollte ein Geschichtsprofessor zu dem Thema »Die kulturelle Bedeutung des Western State Hospital« halten. Wenn man bedachte, dass wir Insassen auf das Gelände beschränkt und mehrheitlich in den Wohnheimen eingeschlossen gewesen waren, fragte ich mich, was er sich zu diesem Thema einfallen lassen würde. Ich erkannte den Vizegouverneur, der, von seinen Mitarbeitern umringt, anderen Politikern die Hände schüttelte, als er den Bau betrat. Er lächelte, doch ich konnte mich an keinen anderen Fall erinnern, dass jemand gelächelt hätte, der durch diese Tür geleitet wurde. Hierher wurde man als Erstes gebracht und abgefertigt. Unter dem Veranstaltungsprogramm stand eine Warnung in Blockschrift, eine Reihe der Gebäude seien wegen ihres schlechten baulichen Zustands nur auf eigene Gefahr zu betreten. Die Warnung ging mit der Bitte einher, den Besuch aus Sicherheitsgründen auf das Verwaltungsgebäude und den Platz zu beschränken.
    Ich ging ein paar Schritte auf die Reihe Wartender zu, die sich für den Vortrag angestellt hatten, und blieb dann stehen. Ich beobachtete, wie die Menge schrumpfte, sobald das Gebäude sie verschlang. Dann drehte ich mich um und lief zügig über den Hof.
    Die Erkenntnis, die mich plötzlich traf, war ziemlich simpel: Ich war nicht hergekommen, um mir einen Vortrag anzuhören.
    Ich brauchte nicht lange, um mein altes Gebäude wiederzufinden. Ich hätte die Wege mit geschlossenen Augen gehen können.
    Die Metallgitter vor den Fenstern hatten Rost angesetzt, das Eisen hatte mit den Jahren eine schmutzig braune Farbe angenommen. Ein Gitter hing wie ein gebrochener Flügel nur noch an einer einzigen Strebe. Die Backsteinfassade war ebenfalls zu einem erdfarbenen Ton nachgedunkelt. Der Efeu, der sich an die Mauer krallte, hatte wild wuchernde, frische Triebe. Die Sträucher, die einst den Eingang schmückten, hatten nicht überlebt, und die große Flügeltür, die ins Gebäude führte, hing lose an rissigen, splitternden Pfosten. Auch der Name des Hauses, der grabsteinartig an der Ecke in eine graue Granitplatte gemeißelt war, hatte gelitten: Jemand hatte etwas vom Stein weggeschlagen, so dass nur noch MHERST zu lesen war. Das A, mit dem der Namenszug ursprünglich einmal begann, war nur noch eine gezackte Narbe.
    Irgendjemand hatte so viel Sinn für Ironie besessen, sämtliche Wohneinheiten nach berühmten Colleges und Universitäten zu benennen. Es hatte ein Harvard, Yale und Princeton, ein Williams und Wesleyan, ein Smith und Mount Holyoke gegeben, außerdem das Wellesley und natürlich das Amherst, in dem ich damals wohnte. Der Bau war nach der Stadt und dem College benannt, die ihrerseits auf einen britischen Soldaten, Lord Jeffrey Amherst, zurückgingen, der seinerseits zu Ruhm und Ehren gelangt war, indem er rebellierende Indianerstämme skrupellos mit pockeninfizierten Decken ausstattete. Seine Geschenke schafften denn auch in kürzester Zeit, was Kugeln, Plunder und Verhandlungen nicht zuwege gebracht hatten.
    An die Tür war ein Schild genagelt, und ich ging näher heran, um es zu lesen. Das erste Wort lautete GEFAHR in Großbuchstaben. Es folgte einiges juristische Blabla von der staatlichen Bauaufsicht, das auf eine amtliche Untauglichkeitsbescheinigung für dieses Gebäude hinauslief und, ebenfalls in Großbuchstaben, mit dem Hinweis endete: UNBEFUGTEN IST DER ZUTRITT NICHT GESTATTET .
    Ich fand das interessant. Damals war es den Insassen so vorgekommen, als hätte man
sie
für untauglich erklärt. Nie wäre es uns in den Sinn gekommen, dass die Wände, Riegel und Schlösser, die unser Leben eingrenzten, eines Tages dasselbe Schicksal ereilen würde.
    Außerdem schien es, als hätte sich bereits jemand anders über die Warnung hinweggesetzt. Die Türschlösser waren mit einem Brecheisen bearbeitet worden, ein Werkzeug, dem es an Feinfühligkeit fehlt, und die Türen standen sperrangelweit offen. Ich packte den Knauf und zog fest daran, und mit einem knarrenden Laut öffnete sich die Tür.
    Ein modriger Geruch erfüllte den ersten Flur. In der Ecke stapelten sich Wein-und Bierflaschen, die, wie ich vermutete, über die andere Gruppe von Gästen Aufschluss gaben: Highschool-Kids auf der Suche nach einem Plätzchen, wo sie sich, vor den strengen elterlichen Blicken geschützt, besaufen konnten. Die Wände waren von Schmutz und bizarren Graffiti-Slogans in verschiedenfarbigem Spritzlack
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