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Die Analphabetin, die rechnen konnte: Roman (German Edition)

Die Analphabetin, die rechnen konnte: Roman (German Edition)

Titel: Die Analphabetin, die rechnen konnte: Roman (German Edition)
Autoren: Jonas Jonasson
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Jahren unter den Latrinentonnenträgern gelernt. Denn hier gibt es auch Idioten, müssen Sie wissen. Am besten geh ich einfach, dann muss ich den Herrn du Toit nicht mehr sehen«, sagte Nombeko und ließ ihren Worten Taten folgen.
    Das alles hatte sie in so einem Tempo vorgebracht, dass Piet du Toit erst reagieren konnte, als das Mädchen schon entwischt war. Und der Gedanke, ihr zwischen die Hütten nachzulaufen, verbot sich von selbst. Wenn es nach ihm ging, konnte sie sich dort im Müll verstecken, bis Tuberkulose, Drogen oder einer der anderen Analphabeten ihrem Leben ein Ende machten.
    »Pfui«, sagte Piet du Toit und nickte der Leibwache zu, die ihm sein Vater bezahlte.
    Höchste Zeit, wieder in die Zivilisation zurückzukehren.
    Mit diesem Gespräch war sie natürlich nicht nur ihre Chefposition los, sondern auch den Job, mit dem sie ihren Lebensunterhalt verdiente. Und ihr letztes Gehalt würde sie auch nicht mehr bekommen.
    Der Rucksack mit ihren unbedeutenden Habseligkeiten war gepackt. Einmal Kleider zum Wechseln, drei von Thabos Büchern und die zwanzig Stangen Antilopen-Trockenfleisch, die sie gerade von ihrem letzten Geld gekauft hatte.
    Die Bücher hatte sie schon gelesen, und sie kannte sie auswendig. Doch Bücher hatten einfach etwas Sympathisches, ihre bloße Existenz war erfreulich. Es war fast wie mit den Latrinentonnenträgern. Bloß umgekehrt.
    Es war Abend, die Luft war kühl. Nombeko zog ihre einzige Jacke an. Legte sich auf ihre einzige Matratze und deckte sich mit ihrer einzigen Decke zu (ihr einziges Laken war gerade als Leichentuch draufgegangen). Am nächsten Morgen würde sie von hier fortgehen.
    Und plötzlich wusste sie auch, wohin.
    Am Vortag hatte sie davon in der Zeitung gelesen. Sie würde in die Andries Street 75 in Pretoria fahren.
    In die Nationalbibliothek.
    Soweit sie wusste, war Schwarzen der Zutritt nicht verboten, mit etwas Glück würde sie also hineinkommen. Was sie dann machen konnte, außer zu atmen und die Aussicht zu genießen, wusste sie nicht. Aber das reichte ja schon mal für den Anfang. Und sie spürte, dass die Literatur ihr dann schon den weiteren Weg weisen würde.
    Mit dieser Gewissheit schlief sie zum letzten Mal in der Hütte ein, die sie fünf Jahre zuvor von ihrer Mutter geerbt hatte. Und sie tat es mit einem Lächeln.
    Und das war etwas ganz Neues.
    Als der Morgen dämmerte, brach sie auf. Es war nicht gerade eine kurze Strecke, die vor ihr lag. Der erste Spaziergang ihres Lebens außerhalb von Soweto sollte ein neunzig Kilometer langer werden.
    Nach knapp sechs Stunden – und sechsundzwanzig der neunzig Kilometer – war Nombeko im Zentrum von Johannesburg angekommen. Das war eine ganz andere Welt! Allein die Tatsache, dass die meisten rundherum weiß waren und eine schlagende Ähnlichkeit mit Piet du Toit besaßen, war bemerkenswert. Interessiert sah Nombeko sich um. Neonschilder, Ampeln und allgemeiner Lärm. Und blitzblanke neue Autos, Modelle, die sie noch nie gesehen hatte.
    Als sie sich halb umdrehte, um mehr zu sehen, sah sie, dass eines dieser Autos mit vollem Tempo auf dem Gehweg auf sie zufuhr.
    Nomeko konnte noch denken, dass es wirklich ein sehr schönes Auto war.
    Aber ausweichen konnte sie nicht mehr.
    * * * *
    Ingenieur Engelbrecht van der Westhuizen hatte den Nachmittag in der Bar des Hilton Plaza Hotel in der Quartz Street verbracht. Jetzt setzte er sich in seinen neuen Opel Admiral und fuhr Richtung Norden.
    Aber es ist und war noch nie leicht, mit einem Liter Kognak im Leib Auto zu fahren. Der Ingenieur kam nur bis zur nächsten Kreuzung, dann schlingerte er mit seinem Opel aufs Trottoir, und – verdammich aber auch! – hatte er da gerade einen Kaffer überfahren?
    Das Mädchen unter dem Auto des Ingenieurs hieß Nombeko und war ehemalige Latrinentonnenträgerin. Fünfzehn Jahre und einen Tag zuvor war sie in einer Blechhütte im größten Slum Südafrikas zur Welt gekommen. Umgeben von Alkohol, Lösungsmittel und Tabletten bestanden ihre Aussichten darin, eine Weile im Lehm zwischen den Latrinen von Sowetos Sektor B zu leben und dann zu sterben.
    Ausgerechnet Nombeko war ausgebrochen. Sie hatte ihre Hütte zum ersten und letzten Mal verlassen.
    Und dann kam sie nur bis ins Zentrum von Johannesburg, wo sie völlig kaputt unter einem Opel Admiral liegen blieb.
    »War das etwa schon alles?«, dachte sie, bevor sie in die Bewusstlosigkeit sank.
    Aber das war noch nicht alles.

2. KAPITEL
    Davon, wie es in einem anderen Teil der Welt
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