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Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin

Titel: Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
Autoren: Kai Meyer
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stellte der Diener Christophers Gepäck auf den Steg, einen zerschlissenen Lederkoffer, den Bruder Markus ihm geschenkt hatte. Neben seinen wenigen Kleidungsstücken – die einem Haushalt wie diesem ohnehin nicht angemessen waren – befanden sich darin zahlreiche Schreibhefte mit Fadenbindung, in denen er über die Jahre hinweg all sein Wissen notiert hatte. Sie waren sein ganzer Stolz.
    Leise plätschernd rollten die Wellen gegen die Felswände der Bucht. Das helle Kreidegestein war dort, wo die Flut es berührte, mit grünem Schlick überzogen. Ein tiefes Fauchen zog Christophers Blick auf die Wipfel der Zypressen. Sie wiegten sich geisterhaft im Wind, flüsterten und rauschten. Es klang geheimnisvoll, ein wenig bedrohlich sogar.
    Ein Mädchen mit hellblonden Locken und einem weißblauen Rüschenkleid kam ihnen auf dem Steg entgegengerannt. Christopher schätzte, daß es nicht älter als zehn Jahre war.
    »Mutter! Mutter!« rief die Kleine. »Schau nur, ich habe Muscheln gesammelt!«
    Charlotte ging lächelnd in die Hocke, bis ihr Gesicht auf einer Höhe mit dem des Mädchens war. Mit gespieltem Staunen blickte sie in die offenen Hände der Kleinen. In jeder lagen zwei weiße Muscheln, so groß wie die goldene Taschenuhr, die Bruder Markus an Sonntagen einzustecken pflegte.
    »Die sind wunderschön«, schwärmte Charlotte.
    »Für dich«, verkündete ihre Tochter strahlend.
    »Oh.« Vorsichtig nahm Charlotte die Muscheln entgegen und steckte sie behutsam in ihre Tasche. Dann umarmte sie das Mädchen.
    »Vielen Dank, mein Schatz.«
    Christopher stand daneben und betrachtete Mutter und Tochter mit gemischten Gefühlen. Der Anblick strahlte Wärme und Geborgenheit aus, doch zugleich überkam ihn abermals die Furcht, als Fremder in diese Familie einzudringen.
    Charlotte stand auf, legte einen Arm um Christopher und stellte ihn dem Mädchen vor.
    »Das ist Christopher«, sagte sie feierlich. »Er ist dein neuer Bruder.« Dann deutete sie auf ihre Tochter. »Und dieser kleine Engel ist Sylvette, unsere Jüngste.«
    Das Mädchen reichte ihm wohlerzogen die Hand, beäugte ihn aber nicht ohne Mißtrauen, als er danach griff und sie schüttelte.
    »Nicht so förmlich«, ermunterte Charlotte sie. »Umarmt euch doch!«
    Zögernd gehorchten die beiden. Sylvette fühlte sich in Christophers Armen sehr zerbrechlich an. Er ließ sie so schnell wie möglich wieder los.
    »Sind die anderen auch da?« fragte er schließlich, weil ihm das Schweigen des Mädchens unangenehm war.
    Charlotte nahm die beiden an den Händen und führte sie den Steg entlang an Land. Sie war eine große Frau, doch Christopher überragte sie noch um einen halben Kopf. Falls jemand sie aus dem Dickicht der Zypressen beobachtete, würde sich ihm ein merkwürdiger Anblick bieten.
    »Aura und Daniel wirst du gleich kennenlernen, sie sind im Schloß«, sagte Charlotte.
    »Und … Vater?« Das Zögern, ehe er das ungewohnte Wort über die Lippen brachte, konnte Charlotte schwerlich entgehen.
    Ehe sie aber etwas erwidern konnte, platzte schon Sylvette heraus:
    »Vater haßt uns. Vater haßt uns alle.«
    Charlotte blieb wie angewurzelt stehen. Ihr schmales Gesicht unter dem Muschelhut war kreidebleich geworden, als sie das Mädchen erschrocken und in kalter Wut anstarrte.
    »Wie kannst du so etwas sagen?«
    Die Kleine gab sich trotzig. »Aber es stimmt doch.«
    Für einen winzigen Augenblick fürchtete Christopher, Charlotte würde ausholen und dem Mädchen eine Ohrfeige verpassen. Ein haarfeiner Riß zog sich durch das Bild der Idylle, das er sich vom Leben der Familie Institoris gemacht hatte.
    Seine Stiefmutter faßte sich jedoch, ließ beider Hände los und ging voraus. Als Christopher Sylvette einen verstohlenen Blick zuwarf, schenkte sie ihm ein kindliches Lächeln, so unschuldig, daß er schlagartig verstand, weshalb Charlotte sie ihren kleinen Engel genannt hatte.
    Es gab keinen befestigten Weg durch den Zypressenhain, was Christopher bei einer Anlage wie dieser überraschte. Es war fast, als hätte man die natürliche Anordnung der Bäume nicht zerstören wollen. Einige von ihnen standen jedoch weit genug auseinander, so daß die drei mühelos hindurchgehen konnten.
    Der Baumstreifen war nicht breit, zwanzig Meter vielleicht, aber in seinem Inneren herrschte die Dämmerstimmung einer anderen Welt. Ein Flechtwerk aus fahlem Herbstlicht und Schatten lag über dem Boden, aus dem an einigen Stellen bucklige Höcker aus Kreidefels hervorschauten. Ein herber
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