Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin

Titel: Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
zu lernen, ganz anders als die übrigen Kinder im Waisenhaus. Bruder Markus war beeindruckt und machte ihn zu seinem Privatschüler, besorgte ihm ein ums andere Buch und wachte über ihn, wenn Christopher sie unter Aufbietung aller Kräfte – und manchem Anfall – studierte.
    Während die übrigen Kinder früh an Handwerksbetriebe vermittelt wurden, wo sie zu lernen und bald schon wie Männer zu arbeiten hatten, setzte der Bruder es sich zum Ziel, Christopher zum Gelehrten zu erziehen. Freilich schied ein Studium aus finanziellen Gründen aus, doch die privaten Unterrichtsstunden in Markus’ Kammer genossen beide gleichermaßen. Kein Schreinermeister oder Fleischer wollte sich mit einem derart gebildeten Kind abgeben, und so blieb Christopher Jahr um Jahr im Heim und lernte dazu, wurde, wie die Knechte ihn bald gehässig nannten, der »Ladenhüter«.
    Bis zu dem Tag, an dem Charlotte Institoris auftauchte, auf der Suche nach einem Pflegesohn. Nicht gar zu jung sollte er sein, sagte sie und weckte damit den Argwohn des Bruders. Doch alle unsittlichen Ahnungen, die ihm bei solchem Wunsch gekommen waren, konnte sie durch vorzügliche Beweise ihrer Ehrbarkeit widerlegen. Aus altem Adel stammte sie, mütterlicherseits, hatte selbst zwei Töchter geboren und einen weiteren Jungen bereits vor zwei Jahren in ihr Haus aufgenommen. Schriftliche Rückfragen bei gewissen Verwaltungsstellen bestätigten ihre Behauptungen. Es gelang Bruder Markus sogar, das Heim ausfindig zu machen, in dem der andere Junge aufgewachsen war. So erfuhr er bald von der dortigen Leiterin, daß Daniel ein reger Briefschreiber war und sich durchweg freundlich, ja begeistert über sein neues Zuhause äußerte.
    Bruder Markus und Christopher führten daraufhin lange Gespräche, bis sie endlich übereinkamen, daß dies wohl eine Gelegenheit war, die es zu nutzen galt. Christopher würde endlich zuteil werden, was er in den Augen des Bruders schon lange verdient hatte: eine Familie und eine Umgebung, die sein geistiges Gedeihen unterstützen und anregen würde. Bruder Markus war glücklich, und Christopher, nun ja, er war es wohl auch. Auf seine Weise.
    Natürlich gefiel es ihm nicht, seinen väterlichen Lehrer zu verlassen, und natürlich fragte er sich, wie es wohl sein würde, das zukünftige Leben in einem wahrhaftigen Schloß. Würde er die Familie Institoris nicht zwangsläufig enttäuschen müssen, er, ein einfaches Waisenkind, das von der Mutter als Neugeborenes verlassen worden war? Würde er mit seinen neuen Geschwistern auskommen? Und mußte er ihnen nicht, trotz allen Studierens, in Dingen der Gelehrsamkeit maßlos unterlegen sein?
    Diese und andere Zweifel beschäftigten ihn, als Bruder Markus ihn einige Monate nach Charlottes erstem Besuch zum Bahnhof brachte. Nach einer abermaligen Einführung in die nötigen Regeln der Etikette (der zehnten oder elften in den vergangenen Tagen) küßte Markus ihn auf beide Wangen, umarmte ihn herzlich und gab ihm die besten Wünsche mit auf den Weg.
    Dann war Christopher auf sich allein gestellt gewesen, wenn auch nur für wenige Stunden. Charlotte Institoris wollte ihn am Dorfbahnhof erwarten, wo sie seinem Kommen, wie sie in einem freundlichen Brief versichert hatte, sehnlichst entgegensah.
    Das Boot glitt lautlos an zwei mannshohen Felsquadern vorüber, die die Einfahrt einer kleinen Bucht markierten. Auf jedem Block saß ein steinerner Löwe. Die Blicke der Tiere kreuzten sich hoch über dem Wasser.
    Die Bucht lag im Zentrum des Inselhufeisens. Sie wurde von steilen, zwei Meter hohen Felswänden begrenzt. Ein schmaler Steg reichte hinaus zur Mitte der Bucht.
    Dort, wo der Steg an die Felsen stieß, erhob sich die schwarzgrüne Mauer der Zypressen, kegelförmige Ungetüme, die den halben Himmel verdunkelten. Christopher war sicher, daß er noch nie in seinem Leben so hohe Bäume gesehen hatte. Sie mußten zwanzig, ach was, fünfundzwanzig Meter hoch sein.
    Er hatte Charlotte gebeten, das Anlegen des Bootes vom Deck aus beobachten zu dürfen, und nur zu gerne hatte sie ihm diesen Wunsch erfüllt. Sie war sogar selbst mit aus der Kajüte geklettert, lehnte jetzt neben ihm an der Reling. Mit einer Hand hielt sie ihren Hut fest, den der Wind fortzureißen drohte. Es störte sie nicht im geringsten, daß sie den drei Männern dabei gehörig im Weg stand.
    Sanft legte das Boot am Steg an. Einer der Männer half Charlotte und Christopher an Land. Die übrigen waren mit Tauen und Segeln beschäftigt. Zuletzt
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher