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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
Autoren: Michael Köhlmeier
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vieren, bellend und grunzend, vor seinen Häschern im Kreis rutschte. Endlich gestand er, dass er auf Befehl des Intelligence Service und des American Joint Distribution Committee den Ministerpräsidenten der Volksrepublik Ungarn, Genosse Mátyás Rákosi, während einer Gallenblasenoperation mit einer Überdosis Morphium habe vergiften wollen. Meine Großmutter, weil Verabredungsgefahr mit anderen in die Verbrechen involvierten Ärzten bestehe, wurde auf unbestimmte Zeit in Verwahrsam genommen. Man brachte sie nach Szabadsághegy in Buda, in die Villa auf dem Freiheitsberg, wo sie von den ÁVH-Männern Janko Kollár, Lajos Szánthó und Zsolt Dankó mit Zigaretten, Cognac, Konfekt und Beruhigungsmitteln versorgt und bis zu dreimal am Tag vergewaltigt wurde. Nach zwei Wochen kam sie frei. – Sok ház ég belül, de nem látszik kívül – viele Häuser brennen innen, und von außen sieht man nichts.
     

4
     
    Am 5. März 1953 , wenige Tage nach meinem vierten Geburtstag, starb nach zwei Schlaganfällen: Josif Stalin. Erst gab es wieder Gerüchte, Ärzte seien schuld an seinem Tod, und wieder wurden ein paar Dutzend, die meisten Juden, festgenommen, auch Ärzte außerhalb der Sowjetunion.
    Mein Großvater saß im Gefängnis; das war durchaus ein Alibi, wenngleich nicht unbedingt ein gutes, denn es waren schon Menschen des Mordes angeklagt worden, die zum Zeitpunkt der Tat längst nicht mehr gelebt hatten. Er hatte Glück – wenn man das sagen darf –, die Anklage gegen ihn wurde von einem Tag auf den anderen fallengelassen, und er kam frei. Das Ganze sei ein Versehen gewesen. Mátyás Rákosi sei nie an der Gallenblase operiert worden. Major György Hajós und Oberst Miklós Bakonyi, die für meinen Großvater zuständigen Offiziere der ÁVH, taten nun, als wären sie in Wahrheit immer seine Freunde gewesen, die ihn in einer schlimmen Zeit vor Schlimmerem bewahrt hätten – das solle er bitte nicht vergessen. Der Weltgeist sei grausam, aber gerecht, das habe sich wieder einmal bestätigt. Das Gute habe gesiegt. Das Böse werde auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen. Sie schlugen meinem Großvater auf die Schultern – sanfter, als sie es vor wenigen Wochen getan hatten – und scherzten, ihnen persönlich tue es leid, dass er Mátyás Rákosi nicht tatsächlich vergiftet habe. Mátyás Rákosi war inzwischen selbst in Ungnade gefallen, und man durfte getrost damit rechnen, dass er, wahrscheinlich gemeinsam mit Gábor Péter, dem ebenfalls abgesetzten Chef der ÁVH, der für alle diese bösen Sachen verantwortlich sei, recht bald erschossen würde.
    Nun wohnten wir alle zusammen in der geräumigen Wohnung Nummer 7 an der Báthory utca Nummer 23 – Opa, Moma, meine Mutter und ich. Deswegen hatte es übrigens einen lauten Streit zwischen meiner Mutter und Moma gegeben. Meine Mutter wollte erst nicht zu uns kommen und wieder in ihrem Kinderzimmer schlafen. Moma aber bestand darauf, dass sie aus dem Studentenheim ausziehe. Wenn Moma »das Studentenheim« sagte, dann so, als würde sie »das angebliche Studentenheim« sagen. Was sie damit meinte, war leicht zu erraten: dass meine Mutter eine Lügnerin war. Das hatte ich mir immer schon gedacht. Jedes Mal, wenn sie gekommen war, um mich zu besuchen, hatte sie mir »etwas überaus Merkwürdiges« erzählt, das ihr zugestoßen sei. Das Leben ist voller Möglichkeiten, und ein kleiner Spaziergang von der Donau herauf, am Szabadság tér vorbei und in die Báthory utca muss nicht, aber könnte solches bieten. Ich entdeckte sehr früh die Möglichkeitsform.
    Schließlich hatten Moma und ich aber doch den Eindruck gewonnen, dass meine Mutter gern bei uns wohnte. Eines Morgens sah ich sie vor dem großen Spiegel im Badezimmer stehen, nackt, die Arme ausgebreitet, den Kopf nach hinten gebeugt; sie hatte die Augen geschlossen und lächelte, als ob sie sich dennoch im Spiegel sähe. Sie war zufrieden mit sich selbst. Ich erzählte Moma, was ich beobachtet hatte, und wurde dafür gelobt.
    Wir lebten nicht schlecht. Major Hajós und Oberst Bakonyi kamen vorbei, um sich von Großvater ein Schreiben unterzeichnen zu lassen, und brachten bei dieser Gelegenheit Speck, Wurst, Kaffee, Wein, Barack und andere gute Sachen mit, eine Gans und ein Käserad, einen Schinken, so groß wie ein Tennisschläger, und für Moma eine Tasche voll Zigarettenschachteln. Gleich dreimal mussten sie die Stiege hinauf- und hinuntergehen. Wenn sie sonst etwas für uns tun könnten, baten sie, müssten
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