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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
Autoren: Michael Köhlmeier
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beteiligt sei, wenn sie doch mit eigenen Augen sähen, wie er sich um den Enkel jenes Arztes bemühte, dessen Frau vor dreißig Jahren zusammen mit der Cousine von Mátyás Rákosi in die Volksschule gegangen war?
    Er setzte mich auf einen Stuhl in seiner Küche, rückte einen zweiten nah heran, so dass seine Knie die meinen berührten, und fragte mich nach meinem Namen. Er sprach Deutsch mit mir. Als Freund der Familie – so hatte ihn mir meine Mutter vorgestellt – wusste er wohl, dass ich besser Deutsch verstand als Ungarisch. Er sagte nicht: Wie heißt du? Sondern: »Wie lautet dein Name?« Ich antwortete nicht sofort. »Wie heißt du?« war ich schon oft gefragt worden, »Wie lautet dein Name?« noch nie. Ich überlegte, ob beides das Gleiche bedeute, und kam zur Auffassung, es könne nicht das Gleiche bedeuten. Ich liebte Worte und war von ihrer Ökonomie und Einzigartigkeit überzeugt und hielt es für einen nicht anzunehmenden Unsinn, dass es zwei Ausdrücke für eine Sache gäbe. Das Wort »lautet« irritierte mich. Ich kombinierte, es müsse mit »laut« zu tun haben. Also, dachte ich, hatte mich Herr Dr. Balázs – seltsamerweise im Ton einer Frage – aufgefordert, laut meinen Namen zu sagen. Also brüllte ich: »András!«
    Das weitere Gespräch stand unter dem Eindruck dieses Missverständnisses. Jede meiner Antworten war für Dr. Balázs ein Beleg dafür, wie verwirrt mein Kopf sei. Ich sah das anders. Ich fand seine Fragen merkwürdig und meine Antworten klar. Er konnte meinem Blick nicht standhalten, ich seinem schon. Er erzählte meiner Mutter, ich hätte ihn ununterbrochen angestarrt. Ich sei geschockt und erschöpft. Man müsse sehr vorsichtig und sehr liebevoll mit mir umgehen.
    Besonders zu denken gab dem Arzt die Verwüstung im Salon. Er könne sich nicht vorstellen, dass ein Kind in der Lage sei, eine solche Zerstörung anzurichten. Er hätte mich nur zu fragen brauchen. Ich hätte ihn nicht angelogen. Er befürchtete, dass die ÁVH-Leute in die Wohnung zurückgekehrt seien; womöglich sei es nur einer von ihnen gewesen, ohne Auftrag, mit der bloßen Lust, mich zu quälen. Er untersuchte meinen Körper nach Spuren. Ich musste ihm meinen Hintern entgegenstrecken, und er leuchtete mir mit einer kleinen Taschenlampe in den Anus. Dass er nichts fand, erschreckte ihn mehr, als wenn er etwas gefunden hätte – seine Phantasie spielte ihm Foltermethoden vor, die, wie er meiner Mutter zuraunte, »jede Vorstellung übertreffen«. Aber er tröstete meine Mutter auch: Es werde nicht lange dauern, bis ich alles vergessen hätte; am besten wäre es, das Thema nie mehr anzuschneiden. Nie mehr.
     
    Ich hatte einen Schlussstrich unter mein bisheriges Leben gezogen, um in meinem neuen Leben, in dem es nur mich allein gab, genügend Platz zu schaffen und nicht immer wieder über Erinnerungen zu stolpern. Ich löschte, nicht wie Dr. Balázs prophezeite, die fünf Tage und vier Nächte aus meinem Gedächtnis, sondern alles, was vorher gewesen war. Ich hatte meine Mutter nicht erkannt, als sie mich fand. Sie war schreiend in der Tür zum Salon gestanden, die Hände an den Wangen. Sie hatte nach mir gerufen. Ich war aus meiner Höhle gekrochen, und sie war mir eine Fremde gewesen. Das Menschsein als solches war mir fremd geworden, weil ich mich nicht mehr als Mensch begriff.
    Diese Reflexion solle ich unbedingt im ersten Kapitel meiner Geschichte unterbringen, riet mir mein Freund Sebastian Lukasser. Er meinte damit – sprach es aber wieder nicht aus –, dass in den Umständen des Erwachens meines Bewusstseins der Grund für meine – auch das sprach er nicht aus – furchtbare Existenz zu suchen sei und dass ich, wenn ich die obige Anekdote und eine daran anschließende Reflexion an den Anfang meiner Geschichte stellte, mit dem Mitleid meiner Leser rechnen dürfe. Er hätte selbst gern meine Geschichte geschrieben, hat auch schon damit begonnen – und mir daraus vorgelesen. Ich drehte ihm dabei den Rücken zu. Meine Schultern zitterten. Er glaubte, ich sei betroffen von meinem eigenen Leben und müsse weinen. Ich musste lachen. Er liebt mich und will der Welt beweisen, dass ich im Grunde ein liebenswerter Mensch sei. Ich habe ihm die Erlaubnis entzogen, mich erzählend zu retten. Ich möchte unter keinen Umständen meine Person verleihen und sie in einen Romanhelden umbauen lassen.
     
    Meine Mutter, Elise-Marie Fülöp, war eine ehrgeizige Frau, die nach der Devise lebte, dass der Schein die Realität,
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