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Deutschland umsonst

Deutschland umsonst

Titel: Deutschland umsonst
Autoren: Michael Holzach
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Blechkolonnen stauen, kommt es zu einem zeitweisen Stillstand des Verkehrs. Jetzt kann ich es wagen. Kurzentschlossen klemme ich mir meinen Hund unter den Arm, klettere mit ihm über die Leitplanke und schlängle mich zwischen den Wagen hindurch. Fahrer hupen verärgert. Einer tippt sich kopfschüttelnd mit dem Zeigefinger an die Stirn. Es quietschen Reifen. Noch drei, vier Meter, und ich bin drüben. Feldmann wickelt im wilden Freudentanz seine Leine um meine Beine. Als Leithund scheine ich meine erste Bewährungsprobe bestanden zu haben.
    Und weiter geht es, immer der großen Straße nach, durch graue Quartiere aus rötlichem Klinker, durch Veddel , durch Wilhelmsburg, über die Süderelbe nach Harburg. Mauern ziehen sich von Kreuzung zu Kreuzung, Ampeln unterbrechen das Laufen. Viele Menschen gehen an uns vorbei, aber ich sehe sie nicht an; ich blicke wie ein Blinder weit und starr voraus, spüre die Rucksackriemen in den Schultern, die Kopfsteine unter den Füßen, höre den Takt, den ich mir mit dem Knotenstock auf das Trottoir schlage.
    Vor einer roten Fußgängerampel sucht Feldmann schnell Bekanntschaft mit einem Terrier, der ihm aber nur grimmig die Zähne zeigt. Sein Besitzer, ein kleiner Mann mit Thälmann-Mütze, schaut hinter dicken Brillengläsern groß an mir hoch. »Ihr habt euch wohl verlaufen ?« fragt er und deutet mit seiner eingerollten Morgenpost auf meinen Rucksack. »...sind nur auf der Durchreise«, antworte ich ausweichend. Als würde er mich verstehen, nickt der Mann mit seiner Mütze, murmelt vielsagend »Aha«, dann aber, gerade noch rechtzeitig vor der Frage nach dem »Wohin?«, unterbricht das grüne Ampellicht unsere Unterhaltung.
    Erst am Nachmittag, die Sonne verliert deutlich an Höhe, dünnt die Stadt langsam aus. Weniger Autos auf schmaleren Straßen, kleinere Häuser in weiterem Abstand zueinander, dazwischen Schrebergärten, Treibhäuser, ein Schrottplatz. In den Kanälen protzen die Motorboote mit Chrom und Pferdestärken. Auf einer Wiese, neben einem elektrischen Umspannwerk, das erste reetgedeckte Haus. An den Bushaltestellen annoncieren Vorstadtdiscos ihre Go-Go-Girl-Wettbewerbe, und Schützenvereine laden zum jährlichen Umzug. Hamburger Stadtland.
    Hinter mir, in scheinbar unerreichbarer Ferne, ragt der Fernsehturm aus dem Dunst. Häuser, Brücken, selbst das riesige Plaza sind nicht mehr zu sehen. Viel früher als erwartet bin ich in der Fremde. In der nächsten Telefonzelle brauche ich nach meinen beiden Notgroschen nicht lange zu suchen. Freda ist sofort am Apparat, als hätte sie auf meinen Anruf gewartet. »Ich muß dich irgendwo treffen«, sage ich. Keine Antwort. »Vielleicht im Sommer«, setze ich nach, »irgendwo am Rhein .« Freda sagt noch immer nichts. Sie mißtraut meiner ungewohnten Entschiedenheit. Schließlich ein zögerndes »Mal sehen«, was ich dankbar als feste Zusage nehme. Meine Angst vor dem Alleinsein ist damit fürs erste gemildert.
    Am Rande einer monoton-gepflegten Neubausiedlung aus Einfamilienhäusern, nicht weit von einer lärmenden Autobahn, lockt ein kleiner Obstbaumgarten in voller Blüte, von einer dichten Hecke umfriedet. Ein Blick über die Schulter genügt, um sicherzugehen, daß wir unbeobachtet sind; die hölzerne Pforte ist nur angelehnt, und schon sind wir eingehüllt von einem süßlichen Duft. Zwischen zwei kleinwüchsigen Bäumen lasse ich den Rucksack in das hohe Gras fallen, und sofort wird mir leicht und frei. Zum erstenmal binde ich Feldmann von seiner Leine. Erst stutzt der Hund, schaut mich ungläubig an, schüttelt noch einmal die letzten inneren Hemmnisse ab, um dann ungezügelt durch das Gelände zu jagen.
    Während mein Hund um mich herum seinen Kräften freien Lauf läßt, sinke ich erschöpft in die weiche Frühlingswiese und lege mich der Länge nach auf den Bauch. Durch mein verschwitztes Hemd dringt die angenehme Kühle des Grases. Es riecht würzig und zu den feuchten Wurzeln hin ein wenig nach Fäulnis. Direkt vor meinem Gesicht klettert ein blauschwarzer Käfer mit sechs langen, feinbehaarten Beinen an einem Grashalm hinauf. Seine schön geschwungenen Fühler tasten vorsichtig nach meinem Atem. Er mag nicht viel größer sein als eine Ameise, aber durch seine Nähe erscheint er mir wie ein riesiges Untier, mit gepanzertem Rücken, zangenartigen Greifern und einem Maul, mit dem er mich mühelos verschlingen könnte. Als ich die Luft einen Moment anhalte, setzt das Untier seinen Aufstieg fort. Auf der Grasspitze
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