Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Des Teufels Sanduhr: Roman (German Edition)

Des Teufels Sanduhr: Roman (German Edition)

Titel: Des Teufels Sanduhr: Roman (German Edition)
Autoren: Simone Neumann
Vom Netzwerk:
viel schöner als Anna, und immer fröhlich. Nie hatte sie gemurrt oder sich beschwert, immerzu gelacht und sich an allem erfreuen können. Anna kamen die Tränen, als sie so neben ihrer toten Schwester stand. Sie setzte sich neben Mine auf den weichen Moosboden, strich ihr sanft über ihr rotes Haar und begann zu singen. Ja, Anna vergaß für einen Moment ihre Angst und sang, sang das Lieblingslied ihrer Schwester, das wunderschöne Lied, welches ihre geliebte Großmutter so oft den Enkelkindern hatte vor-singen müssen:
    »Weiß mir ein Blümlein blaue, von himmelklarem Schein
Es steht in grüner Aue und heißt Vergissnichtmein
Ich kunnt es nimmer finden, war mir verschwunden gar;
Von Reif und kalten Winden ist es mir worden fahl.
Das Blümlein, das ich meine, ist braun, steht auf dem Ried.
Von Art ist es so kleine, es heißt: Nun hab mich lieb!
Das ist mir abgemäht wohl in dem Herzen mein.
Mein Lieb hat mich verschmäht. Wie mag ich fröhlich sein?«
    Danach bekreuzigte sie Mines Stirn, bekreuzigte auch sich, stand auf, suchte genügend Reisig zusammen, um Mine notdürftig zu bedecken, und verschwand im Wald, tief im Wald.
    Das sind die richtigen Worte zu dem Lied. Mamas Worte. Die Frau kennt Mamas Lied und Mamas Worte. Hat das Lied gesungen. Genau wie Mama es gesungen hat.
    Man muss die Frau suchen. Sie soll noch einmal singen. Noch einmal singen, wie Mama gesungen hat. Wie Mama immer in dem dunklen Wagen gesungen hat. So soll auch die Frau wieder singen. Immer wieder, weil es so schön ist. Ihr darf nichts passieren. Das darf ihr nicht passieren. Nicht, was der anderen Frau passiert ist. Sie muss weitersingen, immer wieder weitersingen. Sie singt wie die liebe Mama, wie die liebe, arme Mama. So wie die Mama gesungen hat, im dunklen Wagen, bevor das große Feuer kam.

II

    Tagelang war Anna nun durch die Wälder gestreift und hatte versucht, in der Einsamkeit Schutz zu suchen. Sie hatte sich notdürftig von Wurzeln und Beeren ernährt und aus Bächen getrunken und war nur selten einmal am späten Abend an den Waldrand gegangen, um einen Blick auf die Dörfer zu werfen. Das Licht, das aus den kleinen Fenstern der Bauernhäuser drang, nahm ihr ein wenig von ihrer Furcht. Doch niemals hätte sie sich getraut, an eine der Türen zu klopfen, nach einem Nachtlager und etwas Essbarem zu fragen.
    Nur ein einziges Mal hatte sie es gewagt, sich auf den Hof eines außerhalb gelegenen Bauernhauses zu schleichen. Der Welpe, den sie bei ihrer toten Schwester gefunden hatte, war drei Tage lang ihr treuer Begleiter gewesen. Der kleine, warme Körper hatte ihr des Nachts Geborgenheit gespendet und ihr ein wenig von ihrer Angst genommen. Doch der Kleine brauchte Milch und wurde immer schwächer, sodass Anna schweren Herzens beschloss, ihn auf dem Bauernhof auszusetzen. sie hoffte für das unschuldige Tierchen, dass es Menschen finden würde, die sich seiner annahmen.
    Sie selbst jedoch wollte keine Hilfe. Sie wollte sich weiter verstecken, wollte allein sein und fürchtete sich gleichzeitig vor der Einsamkeit.
    Sie wusste ja nicht, dass sie nicht allein war, obwohl sie es so manches Mal, wenn sie des Nachts zusammengekauert zwischen den Wurzeln eines großen Baumes saß, spürte. Dann hörte sie ein Rascheln im Gebüsch, und hin und wieder glaubte sie sogar ein Atmen zu vernehmen, das nicht von einem Tier stammen konnte. Leise fing sie an zu zählen, schlang ihre Arme um die Knie und vergrub den Kopf in ihrem Schoß. So verging langsam Sekunde für Sekunde, Minute für Minute und schließlich auch Stunde für Stunde, bis sich die ersten Sonnenstrahlen ihren Weg durch die Baumwipfel bahnten.
    Anna ging ziellos umher, oft auch im Kreis, mal tiefer, mal weniger tief in den Wald hinein, manchmal kehrte sie einfach um und kam an Stellen zurück, die sie schon Tage zuvor passiert hatte. Ganz selten begegnete sie einer Menschenseele: Da waren einmal zwei Männer, die Holz hacken gingen, und dann Kinder, die Kräuter sammelten. Immer aber versteckte sie sich.
    Am zwölften Tag dann, als sie sich gerade am Waldrand aufhielt, um nach Essbarem zu suchen, erblickte sie am Horizont etwas, das sie niemals zuvor in ihrem Leben gesehen hatte. Dort kroch eine riesige, nicht enden wollende Schlange langsam über Hügel, Felder und Wiesen. Fasziniert starrte Anna auf dieses apokalyptische Gebilde, welches stetigen Kurs auf die Stelle hielt, an der sie stand. Und je näher das seltsame Phänomen kam, desto deutlicher konnte Anna erkennen,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher