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Des Teufels Sanduhr: Roman (German Edition)

Des Teufels Sanduhr: Roman (German Edition)

Titel: Des Teufels Sanduhr: Roman (German Edition)
Autoren: Simone Neumann
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gewesen, hatte ihre schreckliche Furcht überwunden, war aus ihrem Loch gekrochen, hatte dem Bauern schulz ins Gesicht geblickt, hatte sich bekreuzigt und an sein Seelenheil gedacht. Doch als sie nun die nackten Füße der Magd sah und als dann im selben Moment in den Wohnräumen der Bauersfamilie ein Säugling zu schreien begann, da verlor sie die Fassung. Wie ein wild gewordenes Pferd stürzte sie auf und davon, sie rannte um ihr Leben, als wäre der Teufel hinter ihr her. Sie rannte fort von dem zerstörten Hof, fort von den toten Hühnern und dem toten Hund, fort von dem Bauern mit der blauen Zunge und der Magd mit den nackten Füßen, fort von dem schreienden Neugeborenen und fort von dem Dorf, in dem nichts mehr war, das sie zum Bleiben gezwungen hätte – außer ihrer Schwester.
    Wie himmlisch still und traumhaft schön doch der Wald war. Ganz, als ob es der Natur vollkommen gleichgültig wäre, ja als ob sie es sogar heimlich befürworte, dass die Menschen vor nunmehr elf Jahren damit begonnen hatten, sich in ihren Städten, Dörfern und auf ihren Feldern abzuschlachten. Der Wald schien eine Welt für sich zu sein, hier rauschten leise die Blätter, zwitscherten lieblich die Vögel, und manchmal raschelte es im Gehölz. Doch Angst hatte Anna auch hier.
    Hatte ihre Furcht im Dorf einen wirklichen Grund gehabt, so war es hier eine andere, eine nicht fassbare Angst vor dieser ganz eigenen Welt des Waldes, in der es so viele Geheimnisse gab. Hinter jeder umgestürzten Baumwurzel konnte ein Troll hocken, unter dem Laub hausten winzige Zwerge, und in Höhlen trieben Hexen und Hexenmeister ihr Unwesen. Nichts von alldem war sichtbar, und viele glaubten auch nicht mehr an böse Geister, doch Anna war sich immer sicher gewesen, dass der Wald ein gottloses Gebiet war. Hier regierten die Mächte der Vorzeit, einer Zeit, zu der die Lehren des Herrn noch keinen Eingang in die Köpfe und Herzen der Menschen dieser Gegend gefunden hatten.
    Anna war völlig außer Atem. Mehr als eine halbe Stunde war sie gelaufen, so schnell ihre Beine sie tragen konnten, und nun war sie hier im Wald, irgendwo tief im Wald. Erschöpft ließ sie sich auf einem Baumstamm nieder. Doch erholen konnte sie sich nicht, denn all ihre Sinne waren weiterhin geschärft. Sie registrierte jedes Geräusch, bemerkte jeden sich bewegenden Schatten und spürte jeden noch so leichten Luftzug.
    Nun saß sie hier, war davongelaufen, hatte nichts mehr, kein Haus, keine Habe, keine Arbeit, nur noch ihre Schwester, die sie unbedingt finden musste. Doch was hatte sie schon verloren? Eine kinderlose Landarme war sie gewesen. Sitzengelas-sen von ihrem Mann und mit einer schwachsinnigen schwester am Hals, hatte sie ohnehin keinen guten Stand im Dorf gehabt. Die Frauen am Brunnen redeten nicht einmal mit ihr. Wenn sie wenigstens über sie geredet hätten. Doch Anna war einfach ein Nichts, einsam, arm und harmlos. Nicht einmal das Interesse der Männer, zumindest das der Männer im Dorf, konnte sie auf sich ziehen. Nicht dass sie das gewollt hätte, Gott bewahre – dennoch war es seltsam, denn Anna war keineswegs hässlich.
    Mittelgroß mit aschblondem Haar und nicht auffällig schönen, aber ebenmäßigen Gesichtszügen, war es allein die rosafarbene Narbe, die sie ein wenig entstellte. Sie reichte von der Stirn über die Nase bis hin zum linken Mundwinkel und rührte daher, dass einer der Jagdhunde des alten Abtes Anna als Kind mit einem Frischling oder Rehbock verwechselt haben musste. Das schönste an ihr waren ihre Augen. Groß und graubraun, mit langen dichten Wimpern, lenkten sie – blickte man nur tief genug hinein – von all ihren äußeren Nachteilen ab. Doch kaum jemand blickte ihr jemals tief in die Augen. Selbst ihr Mann Friedrich hatte das nie wirklich getan. Und so hielt auch Anna sich selbst für eine unschöne Frau.
    Was sollte sie nun tun? Sie wollte nicht zurück ins Dorf. Der Bann war gebrochen, sie war fortgelaufen, und jetzt gab es auch keinen Weg zurück. Doch wohin? Annas Überlegungen wurden immer wieder von ihrer schrecklichen Angst unterbrochen, die sie ständig über die Schulter blicken ließ. Selbst hoch in die Baumwipfel schaute sie, als ob dort, in für Menschen unerreichbarer Höhe, eine Gefahr lauern könnte. Stunden verstrichen, vielleicht auch nur Minuten, doch Anna kam es vor wie eine Ewigkeit. Sie fühlte sich wie an einem Morgen, an dem man plötzlich krank und schwach aufwachte, aufstehen musste, aber nicht aufstehen konnte,
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