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Der zugeteilte Rentner (German Edition)

Der zugeteilte Rentner (German Edition)

Titel: Der zugeteilte Rentner (German Edition)
Autoren: Ralf Schulte
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schnitt er sich die Pulsadern auf. Der Arzt kam erst nach einer halben Stunde. Ging alles ganz schnell.
Maximilian rang nach Luft. Es fiel ihm schwer. Das Haus lastete wie ein Albtraum auf seiner Brust. Der wenige Sauerstoff, der in seine Lungen gelangte, war durchtränkt von süßlicher Verwesung. Nur dann, wenn er sich etwas Toilettenpapier mit duftender Seife einrieb und sich diese in die Nasenlöcher stopfte, hielt er den Gestank für einige Zeit aus.
Wenigstens sah er von seinem Stuhl aus den Himmel. Das Fenster befand sich fast in Deckenhöhe. Nicht besonders groß, ein Erwachsener passte hier niemals durch, eher die Größe eines Kellerfensters. Man munkelte, dass es daran lag, weil das Altenheim eine umgebaute Fabrik war, vielleicht sogar ein Schlachthof – eines der vielen leeren Gebäuden, die still und heimlich herumstanden. Zeit und Vergessen fraßen sie auf. Produziert wurde jetzt woanders – in China, in Rumänien, in Indien oder sonst wo. In diesem Land gab es nur Platz für Bürogebäude, für Banken, Versicherungen und Design-Büros – das Land der Denker.
„Kannst du mir mal Wasser geben?“, ächzte sein Zimmernachbar. „Ich habe Durst!“
„Heute nichts bekommen?“
„Haben mich vergessen.“
Maximilian ging zum Waschbecken, füllte eine Schnabeltasse mit Wasser und gab sie dem Mann zu trinken. Seine Lippen waren so vertrocknet wie Wüstenerde, voller Risse und Furchen, sobald das Wasser sie benetzte, schlossen sie sich und färbten sich rosa. Nur ein kleines Lächeln wuchs in dieser Einöde.
Maximilian setzte sich auf seinen Stuhl. Er fror. Der kleine Heizkörper im Zimmer war ausgeschaltet. Deshalb holte er einen Mantel aus dem Schrank, zog ihn über und setzte sich in seinen Stuhl; den einzigen in diesem Zimmer. Als er in seine Taschen griff, stellte er fest, dass er einen Untermieter hatte: eine Motte.
Vorsichtig umschloss er sie und nahm sie heraus. Als er die Hand öffnete, blieb sie zuerst sitzen, dann machte sie ein paar Flügelschläge und flatterte davon.
„Hey!“
Clara stand im Türrahmen und winkte mit der Hand. Doch Maximilian reagierte nicht.
„Wie geht’s?“
Er drehte den Kopf, aber irgendwie sah er durch sie hindurch, als wäre sie ein Geist. Bei den ganzen Pillen, die sie den Insassen verabreichten, wunderte es nicht.
Clara machte einen Schritt zurück, der Geruch schlug ihr ins Gesicht, sie wollte sich nichts anmerken lassen. Als angehende Ärztin musste man so etwas aushalten.
„Hören Sie mich?“
Langsam hob er seinen Kopf. Das Toilettenpapier schaute aus seinen Nasenlöchern heraus, irgendwie surreal, ein Papier viel wie in Zeitlupe heraus, seine Bewegungen fast wie eingefroren. Zeit bekam hier eine andere Bedeutung. Sie verlief sehr viel langsamer. Jede Minute, jede Sekunde spürte man. Wie ein langer Countdown, der die Menschen auszählte: noch 567.899.234 Sekunden, Tick, Tack, noch 567.899.233 Sekunden, Tick, Tack, noch 567.899.232 Sekunden.
Er betrachtete Clara. Aber seine Augen blickten leer. Schließlich starrte er wieder nach oben zum Fenster, der Himmel klärte sich auf, zwischen den Regenwolken erschien ein blauer Streifen.
„Wie …“, stöhnte er. „Wie sind sie rein gekommen?“
„Ich hab behauptet, ich wäre Ihre Hausärztin!“
„Clever!“
„Ich weiß!“
„Wie geht es meinem Dackel?“
Clara ging in sein Zimmer und setzte sich auf eine Bettkante.
„Da wir seinen Namen nicht wussten“, fuhr sie fort. „und er auf niemanden hört, haben wir ihn einfach Max genannt.“
Erst jetzt bemerkte sie ein kleines Lächeln in seinem Gesicht, kaum merkbar, nicht mehr als eine winzige Falte in den Augenwinkeln.
„Wer ist eigentlich Maximilian Himmel? Sie sind es nicht! Sie heißen Uhland!“
„Maximilian Himmel ist tot!“, sagte er. „Zufall, dass ich ihn kannte. Ich habe nur seine Identität ausgeliehen. Er wird sie nicht vermissen.“
„Und? Kümmert man sich um Sie?“
Maximilian starrte noch immer aus dem Fenster. Er saß nur da in seinem Stuhl, ließ die Arme hängen, selbst die Augenlider neigten sich so tief nach unten, als schliefe er gleich ein.
Clara wollte ihn in Ruhe lassen. Sie wusste nicht, was sie hierher gebracht hatte. Schon komisch, ihn jetzt so zu sehen. Es machte sie traurig. Sie hätte sauer auf ihn sein können, aber stattdessen vermisste sie seine Art, ihr auf die Nerven zu gehen.
„Hey, ich hab jetzt übrigens auch Tee und Brombeermarmelade.“
Der Versuch eines Lächelns.
„Soll ich vielleicht ein anderes Mal
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