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Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)

Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)

Titel: Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)
Autoren: Nils Minkmar
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Vorträgen vor Banken und Versicherungen gute Tipps zur Steuerhinterziehung vermittelt, man hätte davon noch während der Veranstaltung erfahren. Aber es fand sich niemand, ihn wirksam zu verteidigen. Er war, vom Licht der Arena geblendet, in den erstbesten Wasserbottich geplumpst. Und nun? Tun, was Grass rät: Bewegen, vorwärts.
     
    So kam er also nach Kamen, zur Gewerkschaft. Am Nachmittag sollte es noch einen seiner Wohnzimmerbesuche geben, eine Aktion, die kurz zuvor zum sogenannten »Eierlikörgate« mutiert war, als jemand herausfand, dass die Tochter des besuchten Ehepaars SPD -Mitglied war. Der Begriff bezog sich dann auf Steinbrücks Spruch, er werde dann selber den Eierlikör mitbringen. Man müsste vielleicht noch mal in Erinnerung rufen, dass der »Watergate«-Skandal nichts mit Wasser zu tun hatte. Aber egal, es war wie ein Fluch, alles, was Steinbrück unternahm oder nicht unternahm, wurde gegen ihn verwendet.
    In der Stadthalle beobachtete ich den Einzug verspäteter Gewerkschafter. Einer der wenigen jüngeren Anwesenden wirkte besonders schneidig, trug einen dieser modischen karierten Schals eng um den Hals gebunden und federte leicht aggressiv mit deutlicher Verspätung in den Saal. Auf ihn stürzten sich die beleibten Funktionäre im Zweireiher: Umklammerung mit beiden Armen, Klaps auf die Schulter, männliches Abtasten. Mit kaum verhohlener Überlegenheitsgeste nahm der junge Gewerkschafter Platz, verfolgte das Geschehen mit vor der Brust verschränkten Armen vor einem Glas Mineralwasser, die Augenbrauen skeptisch nach oben gezogen. Auf der Bühne wehten die roten Federbüsche, der Chor der Ruhrkohle AG war auf der Bühne, Industriefolklore. Sie sangen das Lied von den Caprifischern und der untergehenden roten Sonne. Am langen Tisch für die örtliche Presse zischte mir ein verwitterter Lokalreporter zu: »Wäre sie nur je aufgegangen, die rote Sonne.« Am Morgen war bekannt geworden, dass die dominierende Regionalzeitung mit einem Schlag ihre Lokalbüros schließen musste, 120  Journalisten waren davon betroffen. Lange daran gewöhnt, den Strukturwandel und die Desindustrialisierung aus sicherer Warte zu beschreiben, fanden sich in diesem Jahr plötzlich die Medien selber auf der Bank der ökonomischen Sorgenkinder.
    Zunächst sprach der stattliche Chef der örtlichen Gewerkschaft, Lothar Wobedo. Er begrüßte auch Vertreter der RAG , der Arbeitgeberverbände und die Manager örtlicher Unternehmen. Das hätte es in Frankreich nicht gegeben, dort pflegen die vielen Gewerkschaften scharf antagonistische Beziehungen zu den Patrons, die froh sein können, auf so einem Gewerkschaftsfest nicht geteert und gefedert zu werden. Seine Rede war ein Lob des gelingenden Strukturwandels. Neue Firmen wie 3 M, die mit den gelben Klebezetteln, bemühten sich und besonders die lokalen Manager. Dennoch habe man die Schließung des Bergbaus nicht ganz verwunden. Das nannte er »eine tiefe Narbe auf unserer Seele«. Und rief dramatisch aus: »Wer sie uns zugefügt hat, werden wir nie vergessen!« Er meinte damit die FDP . Auch Bürgermeister Hupe lobte das Management von 3 M, den Zusammenhalt der Menschen, es war eine historisch hochspannende Momentaufnahme dieser oft beschriebenen, selten fassbaren und bedrohten Spezies, des rheinischen Kapitalismus.
    Kein Klassenkampf, kein Neidreflex, kein entlastendes Wettern gegen die da oben, gegen Berlin oder das eine Prozent – einfach der lebenspraktische Zusammenhalt gewichtiger Männer, während geübte Kellnerinnen Tabletts voller Biergläser durch die Reihen trugen, denn es war Frühschoppenzeit. Hupe schloss: »Und das Wichtigste in diesem Jahr: Bleiben Sie mir alle gesund.«
    Steinbrück hält hier eine seiner besten Reden. Er äußert gleich zu Beginn eine seiner ganz seltenen Gefühlsbeschreibungen, bekennt einen »mittelstarken Anflug von Nostalgie«. Dies ist sein soziopolitisches und habituelles Biotop, obwohl er nicht von hier kommt und die Montanindustrie nicht sein ureigenes Themenfeld ist. Aber die Wortkargheit bei gleichzeitiger Sorge um die Textur der Gesellschaft liegt ihm. Er schätzt es, »dass es in den Hauptstraßen dieser Käffer noch Fachgeschäfte gibt und keine Daddelhallen« – treffendes Detail seines Begriffs einer guten Gesellschaft. Er kommt in Fahrt, setzt seine Akzente, dabei bewegt er seinen Körper wie in einem zurückgenommenen, sorgsam einstudierten Tanz. Die Arme werden in geübter Manier so eingesetzt, dass die Mitte verblüffend
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