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Der Zementgarten

Der Zementgarten

Titel: Der Zementgarten
Autoren: Ian McEwan
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wütend, und ich um so ruhiger und erpichter darauf, sie noch wütender zu machen. Julie forderte von mir einen Beweis, daß es nicht geregnet hätte, und ich sagte, den brauchte ich nicht, ich wüßte das. Meine Schwestern schnappten vor Ärger nach Luft. Als ich Sue um die Zuckerdose bat, ignorierte sie das. Ich ging um den Tisch, und als ich gerade nach der Dose greifen wollte, nahm sie sie und stellte sie ans andere Ende des Tisches in die Nähe von meinem vorigen Platz. Ich wollte ihr eins in den Nacken geben, aber Julie rief, »Untersteh dich!« in einem so scharfen Ton, daß ich erschrocken zurückwich und meine Hand über Sues Kopf hinwegwischte. Sogleich kam mir der Geruch wieder in die Nase. Als ich mich hinsetzte, war ich gefaßt auf den Vorwurf von Julie oder Sue, ich hätte gefurzt, aber sie fingen eine Unterhaltung an, die mich gezielt ausschloß. Ich setzte mich auf meine Hände und zwinkerte Tom zu.
    Tom starrte mich mit halboffenem Mund an, und ich konnte auf seiner Zunge gekautes Essen sehen. Er saß dicht bei Julie. Während unseres Streits über den Regen hatte er sich Essen übers Gesicht geschmiert. Nun wartete er darauf, daß sich Julie auf ihn besann, ihm mit dem Latz um seinen Hals das Gesicht abwischte und zu ihm sagte, er könne aufstehen. Manchmal krabbelte er dann unter den Tisch und setzte sich zwischen unsere Beine, bis wir mit dem Essen fertig waren.
    Sonst riß er sich auch oft den Latz ab und rannte hinaus, um mit seinen Freunden zu spielen, und dann war er erst wieder das Baby, wenn er daheim war und Julie gefunden hatte. Als Baby gab er kaum ein Wort oder Geräusch von sich. Er wartete einfach ab, was sie als nächstes mit ihm anstellte. Wenn sie ihn bemutterte, wurden seine Augen größer und rutschten weiter auseinander, sein Mund wurde schlaff und er schien in sich zu versinken. Als Julie Tom eines Abends auf den Arm nahm, um ihn nach oben zu tragen, sagte ich, »Richtige Babys strampeln und schreien, wenn man sie ins Bett bringt.« Tom warf mir über Julies Schulter einen giftigen Blick zu, und seine Augen und sein Mund wurden auf einmal schmal.
    »Nein«, sagte er ganz vernünftig, »nicht immer nicht«, und ließ sich aus dem Zimmer tragen.
    Ich fand es unwiderstehlich, sie miteinander zu beobachten. Ich trödelte hinter ihnen her, gebannt, und wartete, was passierte. Julie war ein Publikum anscheinend recht und sie machte Witze darüber.
    »Du schaust so ernst«, sagte sie einmal, »als wärst du auf einer Beerdigung.« Tom wollte Julie natürlich ganz für sich haben. Am folgenden Abend ging ich zur Schlafenszeit wieder hinter ihnen hinauf und lehnte in der Tür, während Julie Tom auszog, der mit dem Rücken zu mir stand. Julie lächelte mir zu und sagte, ich solle Toms Pyjama holen. Tom drehte sich in seinem Gitterbett um und schrie, »Geh weg! Geh du weg!« Julie lachte, verstrubbelte ihm die Haare und sagte, »Was soll ich bloß mit euch zwei machen?« Doch ich trat rückwärts aus dem Zimmer, lehnte mich an die Wand im Gang und hörte zu, wie Julie eine Geschichte vorlas. Als sie schließlich herauskam, war sie nicht überrascht, mich zu sehen. Wir gingen in mein Zimmer und setzten uns aufs Bett. Wir drehten das Licht nicht an. Ich räusperte mich und sagte, es würde Tom vielleicht nicht gut tun, wenn er weiter Baby spielte.
    »Vielleicht kommt er nicht mehr draus heraus«, sagte ich.
    Julie antwortete zuerst nicht. Ich konnte gerade erkennen, daß sie mich anlächelte. Sie legte mir die Hand aufs Knie und sagte, »Ich glaube, da ist einer eifersüchtig.« Wir lachten und ich legte mich aufs Bett zurück. Mutig berührte ich mit den Fingerspitzen ihr Kreuz. Sie schauderte und drückte mir fester aufs Knie.
    Dann sagte Julie, »Denkst du viel an Mammi?«
    Ich flüsterte, »Ja, und du?«
    »Natürlich.« Anscheinend gab es sonst nichts zu sagen, aber ich wollte, daß wir uns weiter unterhielten.
    »Findest du es richtig, was wir gemacht haben?« Julie nahm die Hand von meinem Knie. Sie schwieg solange, daß ich dachte, sie hätte meine Frage vergessen. Ich berührte sie wieder am Rücken, und sie sagte sofort, »Damals schien es selbstverständlich, aber jetzt weiß ich nicht mehr. Vielleicht hätten wir es lassen sollen.«
    »Jetzt können wir nichts mehr ändern«, sagte ich und erwartete ihren Widerspruch. Ich erwartete außerdem, daß ihre Hand wieder zu meinem Knie zurückkehrte. Ich fuhr ihr mit dem Zeigefinger das Rückgrat entlang und fragte mich, was sich
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