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Der Winterpalast

Der Winterpalast

Titel: Der Winterpalast
Autoren: Eva Stachniak
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er.
    Ich atmete die Gerüche von Essig und Ruß und Leim ein und versprach ihm, dass ich es nie vergessen würde.
     
    »Höhere Ansprüche« nannte es meine Mutter. Sie war eine praktisch denkende Frau, ihre Träume wurzelten immer in der Realität. Besaß ihr Mann nicht außerordentliche Fähigkeiten? Die Kaiserin Anna hatte ihn noch nicht empfangen, aber er war immerhin schon einmal von einer Prinzessin des Hofs in den Winterpalast bestellt worden.
    Es war Mamas Lieblingsgeschichte: In einem Zimmer im oberen Teil des Palasts hatte Prinzessin Elisabeth meinem Vater eine Kostbarkeit übergeben, ein abgewetztes und zerlesenes Gebetbuch, gedruckt in großen Lettern, die ihre Augen nicht anstrengten. »Es ist ein Geschenk von einer Person, die mir sehr teuer ist«, sagte sie. »Ich weiß nicht, ob es überhaupt noch zu reparieren ist.«
    Sehr behutsam nahm mein Vater das Buch und strich zärtlich über das rissige Leder des Einbands. Er musterte die Rubine und Saphire, die zu einem Kreuz angeordnet waren, und stellte befriedigt fest, dass kein Stein fehlte. Er schlug das Buch auf und blätterte darin. Er sah die losen Blätter und die brüchigen Heftfäden.
    »Ja«, sagte er, »ich kann es reparieren.«
    Die Prinzessin sah ihn unverwandt an.
    »Es bleibt alles vollständig erhalten«, versicherte er, zog ein Taschentuch aus seiner Brusttasche und wickelte das Buch darin ein.
    In den nächsten zwei Wochen polierte mein Vater die Steine und befestigte sie sicher in den Fassungen, klebte Risse im Papier und heftete und leimte die nur noch lose zusammenhängenden Lagen wieder zu einem stabilen Buchblock. Als er die Buchdecke gereinigt hatte, zeigte sich, dass das Leder weitgehend unbeschädigt war. Gutes rostfarbenes Kalbsleder, sagte er immer, braucht nur ein bisschen Birkenöl, dann hält es ewig. Am meisten hatten die goldenen Ornamente unter dem langen Gebrauch des Gebetbuchs gelitten, aber auf die Arbeit mit Blattgold verstand sich mein Vater wie kein Zweiter. Als er fertig war, konnte man nicht mehr sehen, welche Partien alt und welche restauriert waren.
    Elisabeth nahm das Buch und blätterte behutsam die Seiten um, voller Staunen darüber, wie fest und heil es sich anfasste. Überwältigt von Dankbarkeit legte die Tochter Peters des Großen Papa die Hand auf die Schulter, in ihren Augen schimmerten Tränen.
    Mama machte sich die schönsten Hoffnungen. Wer sich im Dienst des Zaren auszeichnet, kann in der offiziellen Rangordnung des Reichs bis ganz nach oben aufsteigen, so etwas ist schon vorgekommen, versicherte sie uns. Wenn ein Bürgerlicher in den Rang eines Hofbeamten vierzehnter Klasse erhoben wurde, durfte er sich adelig nennen, und wenn ein solcher Staatsdiener die achte Klasse erreichte, wurde ihm sogar der erbliche Adel verliehen.
    »Und dann?«, fragte ich.
    »Eine Prinzessin bei Hof braucht immer schöne und kluge Mädchen, die ihr dienen, Barbara. Wenn du erst einmal im Winterpalast bist, ist nichts mehr unmöglich.«
     
    Die kaiserliche Bibliothek war im Westflügel der Kunstkamera untergebracht, in der auch die Kuriositätensammlung Peters des Großen zur Schau gestellt wurde. Es gab dort Edelsteine und Fossilien zu bestaunen, Herbarien mit Pflanzen aus der Neuen Welt und eine Sammlung von anatomischen Präparaten, die allerlei monströse Missbildungen bei Mensch und Tier für die Nachwelt bewahrten. Der Zar hatte sie aus ganz Russland zusammentragen lassen.
    »Ein Museum ist ein Tempel der Wissenschaften«, sagte mein Vater, »ein Licht, das die Dunkelheit erhellt, ein Ort, an dem man die unendliche Vielfalt des Lebens studieren kann.«
    Denn Peter der Große hatte eine historische Mission, und zwar die, seinem Volk das Licht der Vernunft zu bringen. Es gab keinen bösen Blick, keinen Hexenzauber, der bewirkte, dass ein gesunder Fötus sich zu einem widernatürlich missgebildeten Wesen entwickelte, vielmehr galt, was der Zar auf eine Wand der Kunst
kammer hatte schreiben lassen: Der Schöpfer allein ist der Herr über alle Geschöpfe, nicht der Teufel.
    Unseren Dienstmädchen freilich war das Museum nicht geheuer, und sie bekreuzigten sich jedes Mal, wenn sie an den mächtigen Türen der Kunstkamera vorbeigingen. Ihnen graute vor diesen Räumen, in denen Augen von Toten auf die Lebenden starrten, wo – wie sie glaubten – in Alkohol eingelegte menschliche Körperteile darauf warteten, dass ihre rechtmäßigen Besitzer kamen, um sie zu holen und christlich zu bestatten, wie es sich
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