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Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause
Autoren: Rose Tremain
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früheren Tschewi-Besitzer, ähnelte, ob er hier in der Gegend ein Musikgeschäft kenne.
    »Ja«, sagte er. »Es ist direkt da hinten an der Ecke.«
    Sie traten durch eine schwere Tür, deren Bewegung eine Glocke über ihren Köpfen losbimmeln ließ. Der Raum war klein und alt und vollgestopft, durchhängende Regale reichten vom Boden bis zur Decke. Darin stapelten sich Noten, alte 33er Langspielplatten und Bücher, die nach Religions- oder Gesangbüchern aussahen. Auf einem Eichentisch in der Mitte waren auf einer Samtdecke zwei Geigen und ein angelaufenes Saxofon ausgestellt. Der Besitzer des Ladens, ein älterer Mann, saß schweigend auf einem Holzstuhl.
    Lev blickte sich um, dann wieder zu dem Besitzer, der bisher keinen Muskel gerührt hatte. Er dachte: Wenn Pjotr Greszler den Laden hier beträte, würde dieser Mann sich von seinem Stuhl erheben und auf ihn zugehen, erstaunt, geschmeichelt, heftig bewegt und wie verwandelt.
    »Lev«, flüsterte Rudi, »falscher Ort, oder? Lass uns gehen.«
    »Gut«, sagte Lev. Aber dann wandte er sich verlegen an den Besitzer und sagte: »Entschuldigen Sie. Wir haben uns geirrt. Wir hatten gehört, hier seien Räume zu vermieten.«
    Der alte Mann nahm eine selbst gedrehte Zigarette und griff nach der Streichholzschachtel. Seine Hände zitterten. »Kommen Sie nächstes Jahr wieder«, sagte er mit einer kratzigen Raucherstimme. »Bis dahin bin ich tot.«
    Lev starrte ihn mit offenem Mund an.
    »Aber fragen Sie mal nebenan. Nummer 43. Die Werkstatt macht zu. Früher haben sie ostdeutsche Autos verkauft. Aber diese Blechbüchsen will heute niemand mehr.«
    Lev dankte dem Besitzer des Klaviergeschäfts, und sie traten hinaus auf die windige Straße.
    »Scheiße«, sagte Rudi. »Sollten wir vielleicht lieber aufhören mit dem Rauchen? So wie der möchte ich nicht enden.«
    Sie standen vor der Nummer 43 in der Podrorskystraße − einer Straße, die schon zu Lebzeiten des Präsidenten nach ihm benannt war. Dann gingen sie hinein und trafen auf zwei Mechaniker, die unter einer Rampe an einem uralten Citroën DS herumbastelten. Der Geruch von Motoröl weckte Rudi aus seiner Nachmittagsbenommenheit, und er schaute sich interessiert um. »He«, sagte er nach einigen Augenblicken, »jede Menge Platz hier, Lev. Und kein Problem mit dem Parken ...«
    Das Gebäude war alt. Hatte im Laufe der Zeit wahrscheinlich schon ein Dutzend verschiedener Funktionen innegehabt, so wie die Straße sicherlich schon ein Dutzend verschiedener Namen getragen hatte. Die Hälfte des ersten Stocks war herausgerissen worden, damit die Werkstatt an Höhe gewann, aber das Haus hatte sich eine leicht lädierte Vornehmheit bewahrt. Stahlträger stützten jetzt das hohe Dach.
    Linker Hand an der Wand gab es einen ummauerten Vorbau, den Lev sich genauer anschaute. Es war, wie er vermutet hatte, ein Kaminsims, und er streichelte die kalten Ziegel mit der Hand. Die beiden Mechaniker nahmen keine Notiz von ihm. Aber als Rudi merkte, wie Lev sich gerade in einen imaginären Kamin verliebte, wandte er sich an die Männer. Lev hörte, dass er ihnen erzählte, er besitze einen Chevrolet Phoenix, ob sie ihm Ersatzteile für den Wagen besorgen könnten.
    »Nein, tut mir leid, Kamerad«, sagte einer der beiden. »Wir schließen nächsten Monat. Aber was ist überhaupt ein Chevrolet Phoenix?«
    »Tschewi«, sagte Rudi. »Großes amerikanisches Auto. Noch nie so eins gesehen?«
    »Nein«, sagte der Mann. »Wie sollte das denn hierher kommen? Fliegen vielleicht?«
    Sie beschlossen, das Abendessen wieder in der Brasserie Baryn einzunehmen.
    Eva lächelte ihr scheues Lächeln. Sie bestellten Bier, und als Eva es brachte, sagte sie wieder: »Möchten Sie, dass ich Ihnen unsere Spezialangebote nenne?«
    »Lassen Sie mich raten«, sagte Lev. »Kaninchen mit Wacholderbeeren und kaltes Reh.«
    »Na ja«, sagte sie, »das Kaninchen ist heute mit Senfkörnern zubereitet.«
    »Gut. Und was würden Sie empfehlen?«, fragte Lev.
    »Na ja ...«
    »Gestern Abend hatten wir das Kaninchen. Es war etwas ... sehnig.«
    »Ich weiß nicht recht. Die Seegrasravioli sind ganz gut.«
    »Ja?«
    »Obwohl meine Mutter sie besser macht.«
    Rudi hob seinen schäumenden Bierkrug. »Auf Ihre Mutter!«
    »Genau«, sagte Lev und hob ebenfalls seinen Krug. »Auf Ihre Mutter!«
    Eva giggelte und blickte zur Seite, um zu sehen, ob der Maître sie beobachtete.
    Dann sagte Lev: »Kochen Sie auch gern, Eva?«
    »Ja«, sagte sie. »Aber ich bin faul. Ich wohne bei meiner
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