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Der Weihnachtsverrat: Roman (German Edition)

Der Weihnachtsverrat: Roman (German Edition)

Titel: Der Weihnachtsverrat: Roman (German Edition)
Autoren: Anne Perry
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Die Hälfte der Soldaten begleicht sowieso nur alte Rechnungen oder schießt auf alles, was sich bewegt.«
    »Aber Sie müssen doch irgendeinen Grund gehabt haben, Dhuleep zu helfen«, sagte Narraway verzweife lt. »Sagen Sie mir etwas, irgendetwas, das für Sie spricht.«
    Tallis riss die Augen noch weiter auf. Einen Augenblick lang stand das nackte Entsetzen in ihnen. Dann aber verbarg er es wieder. Er schluckte krampfhaft, er würgte regelrecht, so angespannt war sein Hals. »Ich habe die Tat nicht begangen! Und ich habe auch keine Ahnung, wer es getan haben könnte.«
    Narraway wusste nicht mehr weiter. Tallis verteidigte sich nicht, suchte keine Rechtfertigung, beschuldigte keine n anderen, aber er leugnete klar und deutlich die Tat.
    »Es war niemand da außer Ihnen«, sagte Narraway so ruhig er konnte. »Alle anderen können ein Alibi vorweisen.«
    »Dann lügt jemand, oder er irrt sich«, antwortete Tallis. »Ich jedenfalls habe Chuttur Singh nicht getötet, und ich habe Dhuleep Singh nicht laufen lassen. Das müssen Sie beweisen.«
    »Mir bleiben nicht einmal zwei Tage«, protestierte Narraway. »Hauptmann Busby und Major Strafford sind schon alles durchgegangen.«
    »Ich habe es nicht getan«, sagte Tallis einfach. Er hob seine knochigen Schultern. »Ich bin Sanitäter. Ich töte höchstens aus Unachtsamkeit, aber doch nicht mit Absicht.«
    Narraway war entsetzt, wütend; dann aber bemerkte er plötzlich eine Spur Humor in Tallis’ Augen. In diesem Moment überkam ihn eine Welle tiefen Mitgefühls für diesen mutigen Mann. Unter anderen Umständen und tausend Meilen von hier hätte er ihn gemocht. Er befeuchtete seine trockenen Lippen. »Wo genau waren Sie, als Chuttur Singh ermordet wurde?«
    Tallis dachte kurz nach. »Zu der Zeit, als es geschehen sein musste, war ich im Lager, alleine. Ich machte eine Aufstellung von dem Material, das wir hatten und was wir möglicherweise bekommen könnten, wenn Hilfsgüter einträfen, und was wir mit den Sachen vom Basar machen könnten«, antwortete er. »Wenn ich das beweisen könnte, hätte ich es schon lange getan. Im Lager herrscht ein ziemliches Durcheinander. Wir müssen schon lange mit dem, was da ist, auskommen. Mir gehen langsam die Ideen aus.«
    »Haben Sie denn keine Listen angefertigt, Notizen, was Sie besorgen wollten?« Narraway suchte verzweifelt nach einer Antwort.
    »Doch, natürlich. Aber ich kann nicht beweisen, wann ich sie geschrieben habe. Ich hätte es auch in den vorausgegangenen vierundzwanzig Stunden jederzeit tun können. Glauben Sie mir, ich zähle diese verdammten Vorräte noch im Schlaf und hoffe, dass ich mich vertan habe und mehr da ist, als ich dachte. Manchmal stehe ich sogar nachts auf und zähle noch einmal durch in der Hoffnung, dass die Vorräte sich vermehrt haben, wie Wanzen.«
    Narraway ignorierte den Vergleich. »Kannten Sie Chuttur Singh?«
    Tallis blickte zur Seite, seine Stimme war emotionsgela den. »Ja. Er war ein guter Kerl. Allerdings mit einem ei genartigen Humor. Erzählte immer verrückte Witze, die überhaupt nicht lustig waren, aber mit seinem Lachen hat er mich angesteckt.«
    Es klang so normal, und gleichzeitig war es so absurd, dass sie nun über Mord und Hinrichtung sprachen. Ein Albtraum, aus dem er erwachen musste. Als Kind wusste er, wie er das anstellen konnte – einfach aufwachen. »Und Dhuleep?«, fragte er.
    »Der war ganz anders«, antwortete Tallis und sah Narraway dabei genau an. »Ruhig. Man wusste nie, was er gerade dachte. Er sprach Gedichte vor sich hin. Ich glaube jedenfalls, dass es Gedichte waren. Es hätten genauso gut auch Flüche sein können oder ein Curryrezept. Oder ein Brief an seine Großmutter.« Er blinzelte. »Wenn sie mich hinrichten, schreiben Sie dann einen Brief an meine Großmutter? Können Sie ihr sagen, dass ich tapfer gefallen bin? Auch wenn das nicht stimmt?«
    Narraway atmete tief ein, um zu protestieren und ihm zu sagen, dass er nicht so leichtfertig daherreden, die Hoffnung nicht verlieren solle, aber die Worte, die ihm in den Sinn kamen, waren alle nutzlos. In ein paar Tagen würden sie Tallis hängen, die ganze Angelegenheit abschließen und vergessen, bevor die Weihnachtszeit kam. Zum Wohle aller – außer natürlich Tallis’ und seiner Familie in England, die so stolz auf ihn war.
    »Falls es wirklich so weit kommt und Sie mir die Adresse geben, natürlich«, sagte er stattdessen, als sei das die selbst verständliche Antwort. Sie half ihnen aber auch nicht
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