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Der Weihnachtsverrat: Roman (German Edition)

Der Weihnachtsverrat: Roman (German Edition)

Titel: Der Weihnachtsverrat: Roman (German Edition)
Autoren: Anne Perry
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sucht sich seine militärischen Pflichten aus, Leutnant«, erwiderte Busby in scharfem Ton. Er blickte über die Schanzen. »Diese armen Teufel hier haben es sich auch nicht ausgesucht. Strengen Sie sich an, denn die Hinrichtung ist die gerechte Strafe.«
    »Ja, Sir«, antwortete Narraway automatisch. Er war sich aber nicht sicher, ob er es wirklich meinte.
    Busby ging den Weg zurück, den sie gekommen waren, mit gestrafften Schultern, aber in seinem Gang lag keinerlei Leichtigkeit, kein Schwung. Narraway wartete noch einen Augenblick und ging dann auch. Er kam sich vor, als wende er den Geistern seinen Rücken zu, als ignoriere er sie.
    Er musste nachdenken. Im Moment hatte er zur Verteidigung nur den Versuch, Busbys Zeugen unglaubwürdig erscheinen zu lassen, aber genau davor hatte Busby ihn soeben gewarnt. Man brauchte ihm gar nicht erst zu sagen, dass man sich keine Freunde machte, indem man jemanden angriff. Die meisten hatten schon genug Qualen erlitten, hatten Freunde verloren oder sogar ihre geliebten Ehefrauen, hatten so viel Schreckliches erlebt, dass es Narraways Vorstellungskraft sprengte. Er war schon ein Jahr in Indien, aber in Kanpur war er ein Außenseiter. Daran würde sich jeder erinnern.
    Wenn sein Vater nicht darauf bestanden hätte, dass eher die Armee einen besseren Menschen aus ihm machen würde als noch ein paar Jahre an der Universität, säße Narraway jetzt in Cambridge gemütlich vor einem Kaminfeuer, machte sich vielleicht Sorgen, weil er für ein Examen pauken musste, könnte sich aber darauf freuen, Weihnachten zu Hause zu feiern. Die größte Unannehmlichkeit wäre die banale Kälte, die größte Gefahr, nicht gut genug zu sein, schlechtere Noten als erwartet zu bekommen.
    Er hatte es sich nicht ausgesucht. Er erinnerte sich an seinen letzten Abend zu Hause, bevor er den Zug nach Southampton und dann das Schiff bestieg. Eine endlose Reise gen Süden, um das Kap der Guten Hoffnung herum, in den Indischen Ozean. Wochenlang war er eingepfercht gewesen, ein winzig kleiner Punkt auf der unendlichen Wasserfläche, so weit der Blick reichte nichts als das Blau des Meeres. Sie hätten die einzigen Menschen auf der Welt sein können. Selbst die hell glänzenden, leuchtenden Sterne am Himmel änderten ihre Position, besonders an der Südspitze Afrikas, bevor das Schiff wieder Kurs nach Norden nahm und den Äquator erneut kreuzte.
    Wofür? Einige der Männer, die er auf dem Schiff kennengelernt hatte, waren inzwischen in diesem brutalen Aufstand ums Leben gekommen – oftmals in einem Kampf von Indern gegen Inder. Er hatte gehört, dass kaum über 20 000 königliche Soldaten in Indien waren, und natürlich weitaus mehr Männer der Ostindien-Kompanie mit ihren Frauen und Kindern – dem standen Millionen Inder gegen über.
    Ohne sich dessen bewusst zu sein, ging er in Richtung Fluss. Das rasch dahinfließende braune Wasser barg allerlei Gefahren: alle möglichen Lebewesen, wahrscheinlich auch Schlangen, zumindest am Ufer. Aber ihn faszinierte der Fluss immer noch: Er gab ihm ein Gefühl der Weite und der Freiheit, was das Land ihm nicht vermittelte.
    War das ein Stamm, der da im Wasser dahinglitt? Oder ein Krokodil? Er schaute auf das Wasser, damit ihm nichts entging. Krokodile kamen manchmal ans Ufer. Er hatte ihre Zähne gesehen, die wie eine Doppelreihe gezackter Nägel aussahen, messerscharf. Sie konnten ein menschliches Bein mit einem einzigen Biss abtrennen. An die Geschichten, die behaupteten, dass Krokodile nicht angriffslustig seien, glaubte er nicht. Er jedenfalls hielt sich lieber fern von ihnen.
    War Narraway für Tallis nun ein Glücksfall oder das Schlimmste, was ihm passieren konnte? Es gab momentan nur ein Ende für Tallis – den Galgen. Der einzige Unterschied bestand darin, dass es so aussehen sollte, als ob jemand sich für ihn eingesetzt hatte oder eben nicht. Narraway selbst konnte man vernachlässigen. Wenn ihn nach dem Prozess alle verabscheuen würden, und er als Tallis’ Verteidiger in die Geschichte einging, dann war das eben der Preis für eine schnelle und unangefochtene Hinrichtung. So wäre die Angelegenheit noch vor Weihnachten erledigt.
    Wenn Tallis aber doch unschuldig war? Bestand die Möglichkeit überhaupt?
    Der Stamm im Wasser bewegte sich, tauchte flugs unter und zog einen Streifen Kielwasser hinter sich her.
    Krokodile.
    Die Tatsachen sprachen dafür, dass Tallis der einzig Schuldige war. Dennoch, wenn er sich sein Gesicht so lebendig, als hätte er es
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