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Der Weihnachtsfluch - Roman

Der Weihnachtsfluch - Roman

Titel: Der Weihnachtsfluch - Roman
Autoren: Heyne
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gebeten - das war nicht nötig gewesen, denn sie befand sich im wahrsten Sinne des Wortes an der Endstation.
    Sie gab ihm Geld, damit er ihr Gepäck zur Straße brachte, ging hinter ihm den Bahnsteig entlang und wurde von Minute zu Minute nässer. Sie war schon auf der Straße, als sie das Pony mit dem Einspänner und - unübersehbar - den Pfarrer sah, der auf das Tier einredete. Er drehte sich um, als er den Gepäckwagen auf dem Kopfsteinpflaster hörte. Er erblickte Emily und lächelte über das ganze Gesicht. Er war ein einfacher Mann mit unauffälligen Gesichtszügen, ein wenig aufgedunsen und doch, in diesem Augenblick, ein schöner Mann.
    »Ah, Mrs. Radley.« Er kam mit ausgestreckter Hand auf sie zu. »Es ist wirklich sehr nett von Ihnen, dass sie den langen Weg auf sich genommen haben. Und das zu dieser Jahreszeit. Hatten Sie eine stürmische Überfahrt? Gott hat diese raue See zwischen uns geschaffen, damit wir umso dankbarer sind, wenn wir sicher am gegenüberliegenden
Ufer ankommen. So wie im Leben auch.« Mit traurigem Blick zuckte er schicksalsergeben die Achseln. »Wie geht es Ihnen? Müde und durchgefroren? Wir haben noch eine lange Reise vor uns, aber das lässt sich nun mal nicht ändern.« Er blickte sie voller Mitgefühl an. »Es sei denn, Sie fühlen sich dazu heute nicht mehr in der Lage.«
    »Vielen Dank, Father Tyndale, aber ich fühle mich gut«, antwortete sie ihm. Sie wollte gerade fragen, wie lange die Fahrt wohl dauern würde, besann sich aber eines Besseren. Er hätte sie womöglich für feige gehalten.
    »Ah, das freut mich sehr«, sagte er schnell. »Das Gepäck kommt hier hinten rauf und dann geht’s los. Den Großteil der Fahrt können wir noch bei Tageslicht machen.« Und schon drehte er sich um und hievte den einen Koffer mit Wucht auf den Wagen. Der Gepäckträger war gerade noch schnell genug, um selber den leichteren Koffer hochzustellen.
    Emily holte Luft, um etwas zu fragen, überlegte es sich dann aber anders. Was sollte sie schon sagen? Es war erst Mittag, und der Pfarrer meinte, sie würden Susannahs Haus nicht vor Einbruch der Dunkelheit erreichen! Zu welch finsterem Ende der Welt machten sie sich auf?
    Father Tyndale half ihr in den Wagen, auf den Sitz neben sich, schlug eine Decke um sie, dann einen wasserdichten Überwurf, ging eilig auf die andere Seite und stieg ein. Nach ein paar aufmunternden Worten setzte sich das Pony mit gleichmäßigem Trab in Bewegung.
Emily beschlich das unangenehme Gefühl, dass das Tier besser Bescheid wusste als sie und sich auf eine lange Reise einstellte.
    Als sie aus der Stadt hinauskamen, ließ der Regen etwas nach, und Emilys Blick streifte über die vorbeiziehende Landschaft. Wenn sich die Wolken teilten und ab und an ein Stückchen blauen Himmel durchscheinen ließen, taten sich in der Ferne, im Westen, plötzlich herrliche Ausblicke auf die Berge auf. Lichtsäulen strahlten auf nasses Weideland, das aus verschiedenen Farbschichten zu bestehen schien, oben von Wind und Wetter gebleicht, aber darunter tiefdunkle Rot- und versengte Grüntöne. Auf der dem Wind abgewandten Seite der Berge konnte man Schatten sehen, dunkle Bäche im Torf, und ab und zu die Überreste einer alten Schutzhütte aus Stein, die jetzt fast schwarz waren, wenn die Sonne nicht gerade auf die nasse Oberfläche schien.
    »In ein paar Minuten werden Sie den See vor sich sehen«, sagte Father Tyndale plötzlich. »Er ist wunderschön mit vielen Fischen darin. Und Vögel. Er wird Ihnen gefallen. Natürlich ganz anders als das Meer.«
    »Ja, das glaube ich auch«, stimmte Emily ihm zu und kuschelte sich fest in ihre Decke. Sollte sie mehr dazu sagen? Er blickte entschlossen nach vorne, konzentrierte sich auf die Fahrt, obwohl ihr nicht ganz klar war, warum das nötig war. Es gab nämlich nur die eine sich dahinschlängelnde Straße, und das Pony schien die Strecke gut zu kennen. Hätte Father Tyndale die Zügel an der dafür vorgesehenen Eisenhalterung festgebunden und wäre eingeschlafen, würde er zweifellos genauso
sicher nach Hause kommen. Doch die Stille forderte sie heraus.
    »Sie sagten, meine Tante sei sehr krank«, begann sie zaghaft. »Ich habe keine Erfahrung mit der Pflege. Was kann ich denn für sie tun?«
    »Machen Sie sich mal keine Sorgen, Mrs. Radley«, antwortete er mit sanfter Stimme. »Mrs. O’Bannion wird da sein und helfen. Der Tod kommt, wann er will. Da kann man nichts machen. Man kann sie derweil nur etwas umsorgen.«
    »Hat … hat sie denn
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