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Der Weihnachtsfluch - Roman

Der Weihnachtsfluch - Roman

Titel: Der Weihnachtsfluch - Roman
Autoren: Heyne
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starke Schmerzen?«
    »Nein, es geht, zumindest körperlich. Und der Arzt kommt, wann immer es ihm möglich ist. Es geht mehr um eine Schwermütigkeit, ein Grübeln über die Vergangenheit …« Er stieß einen langen Seufzer aus und ein leichter Schatten legte sich über sein Gesicht, nicht etwa ein anderer Lichteinfall, nein, es war etwas, das aus seinem Inneren kam. »Ein Gefühl des Bedauerns darüber, Dinge, die man erledigen wollte, nicht mehr erledigen zu können, da es nun zu spät ist«, fügte er noch hinzu. »Das geht uns zwar allen so, aber das Gefühl, dass einem nur noch kurze Zeit zu leben bleibt, macht es umso dringlicher. Verstehen Sie, was ich meine?«
    »Ja«, sagte Emily kurz angebunden. Sie erinnerte sich an den unerfreulichen Augenblick, als Susannah der Familie eröffnet hatte, dass sie wieder heiraten würde, nicht etwa jemanden, den alle gutheißen würden, nein, einen Iren aus Connemara. Das alleine wäre ja nicht so schlimm gewesen. Der eigentliche Affront war, dass Hugo Ross katholisch war.

    Damals hatte sich Emily gefragt, warum um alles in der Welt das denn so schrecklich war, aber ihr Vater war derart aufgebracht und verletzt über das gewesen, was er als einen Fehltritt seiner Schwester betrachtete, dass sie bezüglich der Ursache und der mangelnden Loyalität in der Vergangenheit nicht weiter nachfragte.
    Jetzt blickte Emily in die raue Landschaft hinaus. Der Wind strich über das wogende hohe Gras, drückte es nieder, so dass die Schatten es wie Wasser erscheinen ließen. Wildvögel zogen über sie hinweg. Sie zählte mindestens ein Dutzend unterschiedliche Arten. Es waren kaum Bäume zu sehen, nur feuchte Erde, die glitzerte, wenn die Sonne durchbrach. Ab und zu kam der See, von dem Father Tyndale gesprochen hatte, zum Vorschein, an dessen Ufer Schilfrohr wie schwarze Messerklingen in die Höhe wuchs. Es waren nur die Hufe des Ponys auf der Straße und das Heulen des Windes zu hören.
    Was konnte Susannah wohl bereuen? Ihre Heirat? Den Kontakt zu ihrer Familie verloren zu haben? Als Fremde hierhin, ans Ende der Welt gekommen zu sein? Jetzt konnte man nichts mehr ändern. Dazu war es zu spät. Susannahs Mann und Emilys Vater waren beide tot. Nichts von Bedeutung brauchte mehr gesagt zu werden. Wollte sie, dass jemand aus der Vergangenheit zu ihr käme, nur damit sie sich umsorgt fühlen konnte? Oder wollte sie ihre Zuneigung ausdrücken und sich entschuldigen?
    Sie waren jetzt mindestens eine Stunde unterwegs. Es kam ihr länger vor. Ihr war kalt, und ihre Glieder waren steif. Außerdem war sie fast völlig durchnässt.

    Sie fuhren über die erste Kreuzung, die sie gesehen hatte, und sie war enttäuscht, dass sie weder links noch rechts abbogen. Sie erkundigte sich beim Pfarrer.
    »Moycullen«, antwortete er ihr mit dem Anflug eines Lächelns. »Links geht’s nach Spiddle, ans Meer, aber das ist ein ziemlicher Umweg. Hier entlang geht’s viel schneller. In einer Stunde sind wir in Oughterard. Dort nehmen wir eine Kleinigkeit zu uns. Sie haben sicher schon Hunger.«
    Noch eine Stunde! Wie lang würde diese Reise noch dauern? Sie schluckte. »Ja, danke. Das wäre schön. Und wie geht’s dann weiter?«
    »Oh, noch ein bisschen weiter nach Westen, bis Maam Cross, dann nach Süden, die Küste entlang, durch Roundstone durch, und dann sind’s nur noch ein paar Meilen, und wir sind da«, gab er zur Antwort.
    Emily fiel nichts mehr ein, was sie hätte sagen können.
    Oughterard bot ihnen einen angenehmen Aufenthalt, und das Essen im Speisesaal mit dem riesigen Torffeuer war köstlich. Das Feuer gab nicht nur mehr Hitze ab als erwartet, sondern verströmte auch einen erdigen, rauchigen Duft, den sie als sehr angenehm empfand. Ihr wurde ein Glas mit einem leicht alkoholischen Getränk angeboten, das wie Flusswasser aussah, aber ganz ordentlich schmeckte. Als sie sich wieder auf den Weg machten, fühlte sie sich, als ob sie die restliche Strecke überleben könnte, wenn sie es vermeiden würde, die Meilen zu zählen und auf die Zeit zu achten.
    Sie kamen an Maam Cross vorbei, und der Himmel
klarte sich gegen Abend zu auf. Ein deutlicher Goldton lag in der Luft, und Father Tyndale machte sie auf die Maumturk Mountains im Nordosten aufmerksam.
    »Wir haben Susannahs Mann nie kennengelernt«, sagte Emily plötzlich. »Was war er für ein Mensch?«
    Father Tyndale lächelte. »Oh, welch ein Verlust!«, antwortete er mitfühlend. »Ja, er war ein feiner Mensch. Für einen Iren sehr ruhig,
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