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Der Wachsblumenstrauß

Der Wachsblumenstrauß

Titel: Der Wachsblumenstrauß
Autoren: Agatha Christie
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Aber nein, nicht mit Wahrheiten, das war das völlig falsche Wort; mit unbedachten Bemerkungen – das war der richtige Ausdruck.
    In Gedanken ging er noch einmal die Minuten direkt nach diesem unglückseligen Satz durch. Erst durch die vielen Augenpaare, die sich entsetzt und missbilligend auf sie richteten, war Cora die ganze Tragweite ihrer Frage aufgegangen.
    »Aber wirklich, Cora!«, hatte Maude gerufen. »Liebe Tante Cora«, hatte George gesagt, und jemand anders hatte gefragt: »Was meinst du bloß damit?«
    Der Ungeheuerlichkeit überführt, war Cora Lansquenet sofort beschämt in einen wirren Redeschwall ausgebrochen.
    »Ach, es tut mir Leid… ich wollte doch nicht… das war wirklich dumm von mir, aber ich dachte, nach dem, was er mir sagte… Ach, natürlich weiß ich, dass alles in Ordnung ist, aber sein Tod kam so plötzlich… bitte vergesst einfach, dass ich überhaupt etwas gesagt habe… ich wollte nicht so dumm… Ich weiß schon, ich sage immer das Verkehrte.«
    Dann hatte sich die Aufregung wieder gelegt und eine praktische Diskussion über die Veräußerung der persönlichen Gegenstände des Verstorbenen hatte begonnen. Das Haus und sein Inhalt, so hatte Mr Entwhistle ergänzt, würden verkauft werden.
    Coras unglückseliger Fauxpas war vergessen. Schließlich war sie immer schon – nun, vielleicht nicht beschränkt, aber doch unverzeihlich naiv gewesen. Sie hatte nie begriffen, was man sagen oder nicht sagen durfte. Mit neunzehn hatte das noch keine so große Rolle gespielt. Bis zu dem Alter kann man einem Enfant terrible seine Eigenheiten nachsehen, aber ein Enfant terrible von fast fünfzig war entschieden zu viel des Guten. Mit unliebsamen Wahrheiten herauszuplatzen…
    Mr Entwhistles Gedankengang kam zu einem abrupten Stillstand. Zum zweiten Mal war ihm das leidige Wort in den Sinn gekommen. Wahrheiten. Und warum war es so leidig? Weil genau das – die Wahrheit – der Grund war, warum Coras freimütige Bemerkungen schon immer Empörung ausgelöst hatten. Weil ihre naiven Äußerungen entweder der Wahrheit entsprochen oder zumindest ein Körnchen Wahrheit enthalten hatten – eben deswegen waren alle stets peinlich berührt gewesen.
    Obwohl Mr Entwhistle in der fülligen neunundvierzigjährigen Frau kaum etwas gesehen hatte, das ihn an das linkische Mädchen früherer Zeiten erinnerte, waren ihr einige ihrer Manierismen erhalten geblieben – die kleine vogelartige Kopfbewegung, wenn sie eine besonders unerhörte Bemerkung machte, der Ausdruck beinahe gespannter Erwartung. Genau auf diese Art hatte Cora einmal als Mädchen über die Figur eines Küchenmädchens gesprochen. »Mollie kommt ja fast nicht mehr an den Küchentisch ran, weil ihr Bauch so vorsteht. Das ist aber erst in den letzten ein, zwei Monaten so. Warum wird sie bloß so dick? Das würde ich gerne wissen.«
    Cora war rasch zum Verstummen gebracht worden. Im Haushalt der Abernethies pflegte man viktorianische Umgangsformen. Am nächsten Tag war das Küchenmädchen aus dem Haus verschwunden, und nach dem diskreten Einholen von Erkundigungen war dem zweiten Gärtner befohlen worden, es zu einer ehrbaren Frau zu machen – was er, bewegt durch das Geschenk eines Cottage, auch getan hatte.
    Erinnerungen aus alter Zeit – doch sie waren nicht ganz müßig…
    Mr Entwhistle dachte eingehender über sein Unbehagen nach. Was war an Coras lächerlichen Bemerkungen, das sein Unterbewusstsein einfach nicht losließ? Nach einer Weile führte er das vor allem auf zwei Sätze zurück: »Ich dachte, nach dem, was er mir sagte…« und »Sein Tod kam so plötzlich…«
    Die zweite Bemerkung untersuchte Mr Entwhistle als Erstes. Doch, Richards Tod konnte in gewisser Hinsicht durchaus als plötzlich bezeichnet werden. Mr Entwhistle hatte über Richards Gesundheitszustand sowohl mit ihm selbst als auch mit seinem Arzt gesprochen. Dieser hatte unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass sein Patient kein hohes Alter erreichen würde. Wenn Mr Abernethie sich schone, könne er noch zwei oder auch drei Jahre leben. Vielleicht sogar länger – aber das sei unwahrscheinlich. Auf jeden Fall hatte der Arzt keinen baldigen Tod vorhergesehen.
    Nun, der Arzt hatte sich getäuscht – aber es war Ärzten, wie sie als Erste zugaben, ja auch nicht möglich, genaue Aussagen über den individuellen Verlauf einer Krankheit zu machen. Es gab Patienten, bei denen man jede Hoffnung aufgegeben hatte und die auf wundersame Weise genasen. Und es gab Kranke, die
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