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Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition)

Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition)

Titel: Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition)
Autoren: Bernhard Schlink
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wenn der Zug schon abgefahren war, und eine durch den Zug laufende Schnur, mit der der Schaffner klingelnd das Signal zur Abfahrt gab. Im Sommer fuhren Straßenbahnwagen mit offenen Plattformen. Der Schaffner verkaufte, lochte und kontrollierte die Fahrscheine, rief die Stationen aus, signalisierte die Abfahrten, hatte ein Auge auf die Kinder, die sich auf den Plattformen drängten, schimpfte mit den Fahrgästen, die auf- und absprangen, und verwehrte den Zutritt, wenn der Wagen voll war. Es gab lustige, witzige, ernste, muffige und grobe Schaffner, und wie das Temperament oder die Stimmung des Schaffners war oft auch die Atmosphäre im Wagen. Wie töricht, daß ich mich nach der mißlungenen Überraschung auf der Fahrt nach Schwetzingen gescheut habe, Hanna als Schaffnerin abzupassen und mitzuerleben.
    Ich stieg in den schaffnerlosen Straßenbahnzug und fuhr zum Bergfriedhof. Es war ein kalter Herbsttag mit wolkenlosem, dunstigem Himmel und gelber Sonne, die nicht mehr wärmt und in die das Auge schauen kann, ohne daß es weh tut. Ich mußte eine Weile suchen, bis ich das Grab, an dem auch die Beerdigungsfeierlichkeiten stattfanden, gefunden hatte. Ich lief unter hohen, kahlen Bäumen zwischen alten Grabsteinen. Gelegentlich begegnete ich einem Friedhofsgärtner oder einer alten Frau mit Gießkanne und Gartenschere. Es war ganz still, und ich hörte schon von weitem das Kirchenlied, das am Grab des Professors gesungen wurde.
    Ich blieb abseits stehen und musterte die kleine Trauergemeinde. Manche darunter waren offensichtlich Eigenbrötler und Sonderlinge. In den Reden über Leben und Werk des Professors klang an, daß er selbst sich den Zwängen der Gesellschaft entzogen und dabei den Kontakt mit ihr verloren hatte, eigenständig geblieben und dabei eigenbrötlerisch geworden war.
    Ich erkannte einen ehemaligen Teilnehmer des KZ -Seminars; er hatte vor mir Examen gemacht, war zunächst Anwalt geworden und dann Kneipier und kam in langem, rotem Mantel. Er sprach mich an, als alles vorbei und ich auf dem Rückweg zum Friedhofseingang war. »Wir waren zusammen im Seminar – erinnerst du dich nicht mehr?«
    »Doch.« Wir gaben uns die Hand.
    »Ich war immer mittwochs im Prozeß, und manchmal habe ich dich im Auto mitgenommen.« Er lachte. »Du warst jeden Tag dabei, jeden Tag und jede Woche. Sagst du jetzt, warum?« Er sah mich an, gutmütig und lauernd, und ich erinnerte mich, daß mir dieser Blick schon im Seminar aufgefallen war.
    »Mich hat der Prozeß besonders interessiert.«
    »Dich hat der Prozeß besonders interessiert?« Er lachte wieder. »Der Prozeß oder die Angeklagte, die du immer angestarrt hast? Die eine, die ganz passabel aussah? Wir alle haben uns gefragt, was mit dir und ihr ist, aber dich fragen hat sich keiner getraut. Wir waren damals furchtbar einfühlsam und rücksichtsvoll. Weißt du noch …« Er erinnerte an einen anderen Seminarteilnehmer, der stotterte oder lispelte und viel und dumm redete und dem wir zuhörten, als seien seine Worte eitel Gold. Er kam auf weitere Seminarteilnehmer zu sprechen, wie sie damals waren und was sie heute machten. Er erzählte und erzählte. Aber ich wußte, daß er mich am Ende noch mal fragen würde:»So, und was war jetzt mit dir und der einen Angeklagten?« Und ich wußte nicht, was ich antworten, wie ich verleugnen, bekennen, ausweichen sollte.
    Dann waren wir am Friedhofseingang, und er fragte. An der Haltestelle fuhr gerade die Straßenbahn an, und ich rief »Tschüß« und rannte los, als könne ich aufs Trittbrett springen, und rannte neben der Bahn her und schlug mit der flachen Hand an die Tür, und es passierte, woran ich gar nicht geglaubt, worauf ich gar nicht gehofft hatte. Die Straßenbahn hielt noch mal an, die Tür ging auf, und ich stieg ein.

4
     
    Nach dem Referendariat mußte ich mich für einen Beruf entscheiden. Ich ließ mir eine Weile Zeit; Gertrud fing sofort als Richterin an, hatte alle Hände voll zu tun, und wir waren froh, daß ich zu Hause bleiben und mich um Julia kümmern konnte. Als Gertrud die Schwierigkeiten des Anfangs überwunden hatte und Julia in den Kindergarten kam, drängte die Entscheidung.
    Ich tat mich schwer. Ich sah mich in keiner der Rollen, in denen ich beim Prozeß gegen Hanna Juristen erlebt hatte. Anklagen kam mir als ebenso groteske Vereinfachung vor wie Verteidigen, und Richten war unter den Vereinfachungen überhaupt die groteskeste. Ich konnte mich auch nicht als Verwaltungsbeamten sehen; ich hatte
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