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Der Visionist

Der Visionist

Titel: Der Visionist
Autoren: Rose M J
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Er trank nicht und war ein Ernährungsfanatiker. Ein paar silberne Strähnen in seinem dichten schwarzen Haar waren der einzige äußerliche Hinweis auf sein Alter. Shabaz war dazu erzogen worden, den Körper mehr als alles andere zu achten. „Wir sind alles, was wir besitzen“, hatte sein Großvater immer zu ihm gesagt.
    Draußen vor dem Studio ging die Sonne unter und tauchte die Orangenwäldchen, die sich kilometerweit in alle Richtungen erstreckten, in ein warmes Licht. Er warf einen Blick auf seine Uhr. In zwanzig Minuten würde sein Fahrer aus Santa Barbara zurückkommen. Ihm blieb gerade noch Zeit für seinen täglichen Spaziergang nach Drehende. Zügig schritt erauf das Tor des Studiogeländes zu.
    Shabaz war mit siebzehn nach Amerika gekommen, um Film zu studieren. Seine französische Staatsbürgerschaft hatte er zwar behalten, doch er war nie mehr nach Hause zurückgekehrt. Mit zweiundzwanzig arbeitete er schon als Regisseur, und im Alter von dreißig Jahren drehte er den finanziell erfolgreichsten Horrorfilm aller Zeiten. Fünf Jahre später gründete er seine eigene Produktionsfirma. Er spezialisierte sich auf Fantasyfilme, in denen die Toten zurück ins Leben kamen – als Vampire, Zombies und Mumien – doch immer aus einem hehren Grund.
    Bei den Kritikern galt er als B-Movie-Regisseur mit messianischen Wahnvorstellungen, aber Filmliebhaber ignorierten die schlechten Besprechungen. Mund-zu-Mund-Propaganda reichte aus, und sogar im tiefsten Winter standen die Leute Schlange, wenn ein neuer Film von Shabaz anlief. Es wurde oft bemerkt, dass die Fans seine Filme lieber im Kino sahen, anstatt sie sich auszuleihen. Seine grausig-großartigen Visionen zeigten ihre volle Wirkung erst recht auf der großen Leinwand, doch nicht nur deshalb füllten die Leute die Kinosäle. Es war ein berauschendes kollektives Erlebnis, die Filme mit anderen zu sehen, die genauso in ihren Bann geschlagen wurden wie man selbst.
    Shabaz ging durch die Pforte und spazierte einmal um das Gelände. Es gab hier vier Tonbühnen, ein Kino, ein Schnittstudio, einen Fitnessclub für die Mitarbeiter, einen Ganztagskindergarten, eine Arztpraxis, eine Kantine und ein Dutzend Bungalows. Der beauftragte Architekt hatte vor allem naturbelassenes Holz und Stein verwendet, und die Bauten wirkten alle, als wären sie direkt aus der Erde gewachsen. Sie fügten sich nahtlos in die Landschaft mit den Orangen- und Eukalyptusbäumen ein.
    Shabaz’ Spaziergang endete an der südwestlichen Ecke des Geländes, bei Bungalow Nr. 6, der an der Seite eines kleinenTeiches lag. Hier befand sich sein Büro, das mit einem privaten Vorführraum und einer Wohnung ausgestattet war, falls er auf dem Gelände übernachten wollte. In der Auffahrt parkte sein olivfarbener Range Rover. Der Fahrer lehnte gegen den Wagen und genehmigte sich eine Zigarette.
    „Hi, Mr Shabaz“, begrüßte er ihn. Er berührte kurz sein Basecap mit dem Aufdruck Shabaz Films und dem auffallenden smaragdgrünen Blitz.
    „Wie viel haben sie uns diesmal abgeknöpft, Mike?“
    „Nicht allzu viel. Auf das meiste war noch Garantie, nur nicht auf die neuen Reifen. Die haben ein paar Hundert Dollar mehr gekostet, aber sie halten angeblich fünfundsiebzigtausend Meilen – nicht nur die zwanzigtausend, die wir aus den letzten rausgeholt haben.“
    „Was so viel heißt wie: Nach fünfundvierzigtausend Meilen sind die auch runter?“
    „Wenn wir Glück haben.“ Der Fahrer grinste. „Brauchen Sie mich heute Abend noch?“
    Shabaz schüttelte den Kopf. „Nein, ich arbeite heute noch. Entweder fahre ich dann selbst später nach Hause, oder ich übernachte hier. Bis morgen.“
    Der Fahrer legte zum Abschied wieder die Hand an sein Basecap und ging hinüber zum Parkplatz, während Shabaz seinen neuen Wagen inspizierte. Zumindest musste es so für einen Beobachter aussehen. Doch in Wirklichkeit versicherte Shabaz sich, dass niemand in der Nähe war und ihn beobachten konnte. Auch wenn nichts Verdächtiges dabei war – wenn ein Mann ein Paket aus seinem Wagen holte, verzichtete er doch lieber auf Publikum.
    Er betrat den Bungalow, grüßte den diensthabenden Wachmann und ging direkt in den Vorführraum. Shabaz schloss hinter sich ab, dann schritt er an den zwölf Kinosesseln aus schwarzem Leder vorbei den Gang entlang. Boden und Wände waren mit Auslegeware bedeckt. Der Teppich war mit feinenQuadraten in unterschiedlichen Grautönen gemustert. In dem schwachen Licht war nicht zu erkennen, dass eines
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