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Der Visionist

Der Visionist

Titel: Der Visionist
Autoren: Rose M J
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schlicht, normales Schreibpaper. Die Punkte waren durchnummeriert und von Hand mit blauer Tinte in Englisch und Deutsch niedergeschrieben. Er begann zu le sen.
Topf mit wohlriechendem Wachs
Reflexionskugeln
Hologrammball
Knochenflöte
    Er konnte nicht weiterlesen, weil fast zeitgleich zwei Dinge passierten, von denen er später nicht sagen konnte, was zuerst geschehen war: Ein leichter Windstoß blies durch den Raum, und Dr. Aldermann schnappte vor Schreck nach Luft. Automatisch ließ er das Papier fallen und griff nach seiner Waffe. Doch seine Finger hatten das feste Metall kaum berührt, als ein harter Schlag seinen Hinterkopf traf.
    Sofort durchfuhr ihn ein harscher Schmerz. Er war scharf, beißend und blendete alle anderen Eindrücke aus. Dem Agent wurde schwarz vor Augen, dann flammte titanweiße Helligkeit vor ihm auf. Er atmete in den Schmerz hinein, während er krampfhaft überlegte, wie jemand in die Bibliothek hatte eindringen können. Dr. Aldermann hatte die Tür von innen verschlossen, das hatte er genau gesehen.
    Ein zweiter Schlag folgte, Sekunden auf den ersten. Vor langer Zeit hatte er einmal solch einen Schmerz erlebt, unddaran erinnerte er sich, als der dritte Schlag seinen Kopf traf. Wie aus weiter Ferne hörte er ein Stöhnen, doch er begriff nicht mehr, dass der Laut von seinen eigenen Lippen kam. Bevor er das Bewusstsein verlor, dachte Special Agent Lucian Glass noch, dass es ihm nicht wirklich etwas ausmachte, wenn er nun starb. Nur wollte er dieses Mal auch tot bleiben.

4. KAPITEL
    Der Junge war erst sechzehn Jahre alt. Dennoch war sein Blick vollkommen ruhig und gefasst, als er sich über den gefallenen Soldaten beugte. Der Mann wand sich, er stöhnte und heulte wie ein Feigling. Auf dem Schlachtfeld war alles still, überall lagen Leichen. Man hätte meinen können, die beiden wären die letzten Überlebenden. Allerdings lebte der Junge nicht – nicht so, wie der Soldat noch lebte.
    Die Untoten sind nicht lebendig. Nicht wirklich.
    „Bitte“, bettelte der Soldat. „Ich habe doch nur meine Befehle befolgt.“
    Das war die falsche Antwort. Der Blick in den Augen des blassen Jungen ließ keinen Zweifel daran. „Das alles …“ Er deutete mit der Hand auf die Zerstörung um sie herum. „Und du hast nicht einmal an die Sache geglaubt, für die du gekämpft hast?“
    Der verwundete Soldat starrte stumm zu ihm hoch.
    „Wenigstens hättest du als Held sterben können“, sagte der Junge mit einem fast wehmütigen Ton in der Stimme.
    „Es gibt keine Helden mehr.“ Der blutüberströmte Kämpfer gab ein verächtliches Knurren von sich.
    Der Ausdruck im Gesicht des Jungen gab eine Antwort, die ein Versprechen enthielt. „Es wird wieder welche geben. Wir brauchen neue Helden“, flüsterte er. Und dann wandte sich der Zombie ab und schritt hinein in die einbrechende Dunkelheit.
    Einige Sekunden lang herrschte vollkommene Stille.
    „Das war’s! Die letzte Szene ist im Kasten!“ Die tiefe Stimme von Darius Shabaz dröhnte durchs Studio. Sein französischer Akzent war nicht zu überhören. „Bravo!“
    Die Schauspieler hörten auf, ihre Rollen zu spielen, die Beleuchter schalteten die Scheinwerfer aus, und das Set wurde wieder zweidimensional und langweilig. Der Regisseur schauteimmer noch auf die Szene. Der kurze Moment des Übergangs von der Fantasie zurück in die Realität versetzte ihn immer in eine melancholische Stimmung.
    Shabaz ging durchs Studio und bedankte sich bei den Schauspielern und der Crew für ihre harte Arbeit. Er lud alle zur Abschlussparty später am Abend ein.
    „Brillante Arbeit, Mitch. Danke noch mal, vielen Dank“, sagte Shabaz, als er neben seinem Kameramann stand.
    „Es ist deine Vision, Darius. Ich würde sagen, wir haben wieder mal einen Volltreffer gelandet.“
    Mit seinen ein Meter fünfundneunzig, bei knapp achtzig Kilo Körpergewicht, überragte Shabaz fast alle Anwesenden, und er bewegte sich viel schneller als alle Übrigen. Wie immer ging eine mitreißende Energie von ihm aus. Sie warte immer schon auf den Donner, wenn Shabaz an ihr vorbeiblitzte, hatte ihn eine seiner Assistentinnen einmal nicht ganz im Witz beschrieben.
    Es dauerte knapp eine Stunde, bis er mit allen gesprochen hatte. Der Tag war lang gewesen – sie hatten früh um sechs mit Außendrehs angefangen, um das Morgenlicht zu erwischen – aber Shabaz war nicht müde. Mit seinen dreiundfünfzig Jahren joggte er fünfundzwanzig Kilometer in der Woche und stemmte Gewichte im Fitnessclub.
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