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Der Vierte Tag

Der Vierte Tag

Titel: Der Vierte Tag
Autoren: Christoph Spielberg
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Zweifel), die eigentlich für die Eingangstür zur Intensivstation bestimmt waren, trägt sie noch unter dem Arm.
    "Na, dann wollen wir mal sehen", sagt unser Geiselnehmer.
    Würde sich ein Blinder so ausdrücken? Vielleicht ein Späterblindeter. Oder es ist ein kleiner Scherz, den er sich hin und wieder mit seiner Behinderung erlaubt. Jedenfalls hält er Renate seinen rechten Arm hin, die ihn unterhakt. Berufsautomatismus.
    "Sie führen."
    Und so überprüft er die Platzierung seiner Päckchen, er mit der Hand und sein Schäferhund, der wahrscheinlich die Hoffnung auf Schappi noch nicht ganz aufgegeben hat, wieder mit der Schnauze. Erneut mache ich Bekanntschaft mit schlechtem Mundgeruch, denn Renate hat die Päckchen unmittelbar neben den Handschellen deponiert. Was im Falle ihrer vorgesehenen Funktion zu deren Öffnung führen wird, wovon wir aber nichts mehr haben werden. Für eine Minute oder so sind die drei im Intermediate-Zimmer verschwunden, tauchen wieder auf und beenden ihre Inspektionstour am Eingang zur Intensivstation, wo Renate die beiden verbliebenen Päckchen vorsichtig an die Fußleiste der Tür lehnt.
    Keine Sekunde zu früh, denn in diesem Moment klopft jemand an dieser Tür, und zwar ziemlich grob, tritt offensichtlich mit dem Fuß gegen die Fußleiste. Die Tür zittert, ebenso die gerade dort abgelegten Pakete. Ich auch.
    "Mittagessen! Will niemand aufmachen?"
    "Wer ist das?" fragt der Blinde Renate und wendet seine Pistole in Richtung Tür.
    Bis auf den Rahmen handelt es sich um eine Glastür, allerdings aus mattiertem, undurchsichtigem Glas, mit einem kleinen Guckloch in Augenhöhe. Aber Renate braucht das Guckloch nicht, hat die Stimme erkannt.
    "Das ist Dr. Krämer, unser Assistenzarzt. Wir haben ihn in die Kantine geschickt, er sollte uns was zu Mittag holen."
    "Schicken Sie ihn weg."
    Inzwischen betrachtet der Schäferhund unsere Intensivstation bereits als sein Territorium und sucht Dr. Krämer mit lautem Bellen zu vertreiben.
    Renate bemüht sich, das Bellen zu übertönen: "Gehen Sie wieder, Dr. Krämer. Wir haben hier ein Problem."
    Totales Unverständnis auf der anderen Seite der Glastür.
    "Lassen Sie mich sofort rein, Schwester Renate!"
    Warum, fragt sich Assistenzarzt Krämer mit Sicherheit, will man ausgerechnet ihn nicht einlassen? War nicht von einem Problem die Rede? Offenbar ein Problem, das die älteren Kollegen auf der anderen Seite der Tür nicht lösen können. Nicht einmal der Chef. Genau für diesen Moment hat er doch Medizin studiert! Und von einer Krankenschwester lässt er sich als typischer Jungarzt sowieso keine Vorschriften machen! Vor meinem geistigen Auge sehe ich, wie er, in den Händen ein Tablett mit inzwischen höchstens noch lauwarmem Essen für die Kollegen, überlegt, ob er die Glastür eintreten soll.
    Diese Gefahr angesichts der zwei netten Päckchen auf unserer Seite der Tür erkennt auch Zentis.
    "Um Gottes Willen, Krämer. Sie bringen uns alle um. Machen Sie, dass Sie hier wegkommen!"
    Die Stimme seines Vorgesetzten überzeugt Dr. Krämer, fürs erste sind wir dem Explosionstod entronnen. Aber unser junger Arztfreund wird wiederkommen, sicher mit Unterstützung. Und was machen wir dann?
    Nach ein paar weiteren Überlegungen muss ich über meine Angst von eben lächeln. Das öffnet mein verstocktes Herz, und ich teile meine Erkenntnis flüsternd mit Zentis neben mir.
    "Der muss die Dinger doch erst einmal verkabeln, um sie zu zünden. Und wie er sich hier mit Minischraubenzieher oder Krokodilklemmen zwischen den Zähnen und einer Rolle Sprengkabel um den Hals durch die Gegend tastet, möchte ich gerne sehen."
    Falls er wirklich blind ist.
    "Haben Sie schon mal von Zündern gehört, die auf Erschütterung reagieren, Hoffmann? Wie eine einfache Tretmine?"
    Da hat er recht. Meinen Denkfehler schiebe ich lieber auf Übermüdung nach Nachtdienst als auf unmännliche Angst. Aber Zentis hat schon weitergedacht.
    "Außerdem, wer braucht heute noch Kabel?"
    Schon wieder hat er recht. Erst vor ein paar Monaten habe ich den Kabelsalat bei mir zu Hause beseitigt und alle Zusatzgeräte für meinen Computer auf Funksteuerung umgestellt. Wahrscheinlich hat unser Freund eine Fernbedienung in seiner Hosentasche und kann uns damit ebenso schnell in die Luft jagen wie ich im Fernsehen die Werbung wegzappe. Na toll!
    Klar nehme ich Zentis übel, dass er recht hat. Und ich habe wieder Angst. Trotzdem bin ich innerlich ziemlich ruhig, habe ich so etwas doch längst kommen
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