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Der Vierte Tag

Der Vierte Tag

Titel: Der Vierte Tag
Autoren: Christoph Spielberg
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Auf den linken Arm gestützt, liegt er in Bett eins und beobachtet die Szene hochinteressiert, scheint sie für eine bemerkenswerte Beigabe zum Gesamtabenteuer Intensivstation zu halten.
    "Drei", beantwortet Renate die Frage nach der Anzahl aktueller Patienten.
    Stimmt. Diesmal hat Renate nicht zu schummeln versucht. In Bett zwei sehe ich einen männlichen Patienten, der schläft oder mit geschlossenen Augen der Wirklichkeit zu entrinnen versucht, während eine Blutkonserve über den linken Arm und irgendeine milchige Infusion über den rechten bedächtig in seinen Körper tropfen. Außerdem hängt noch ein Schlauch aus seiner Nase mit einem Gewicht dran, wahrscheinlich eine Sengstaken-Sonde. Bett drei steht leer, wie auch die Betten fünf bis neun. Außer Bett eins und zwei ist nur noch Bett vier belegt. Dort läuft das volle Intensivprogramm, hinter den dicken Schläuchen der Beatmungsmaschine und den vielen Infusionssystemen ist von der Patientin oder dem Patienten nichts auszumachen. Nur die verschiedenfarbigen Kurven und Zahlen auf den zwei Monitoren am Kopfende geben einen Anhalt, dass dort etwas Belebtes liegt, wobei die Werte auf den Monitoren davon zeugen, wie dehnbar der Begriff "Leben" in der hochtechnisierten Medizin unserer Tage geworden ist.
    Renates Antwort zur Anzahl der belegten Betten hat den Blinden nicht zufriedengestellt.
    "Wie viele Betten haben Sie hier auf der Intensivstation?"
    "Zwölf"
    "Und nur drei sind belegt?"
    Renate lässt sich durch die Pistole, die wieder in ihre Richtung zeigt, nicht aus dem Konzept bringen.
    "Es ist Sommerzeit. Ferienzeit. Und die Raser von der Autobahn liegen auf der chirurgischen Intensivstation", erklärt sie.
    Im Prinzip stimmt das. Was Renate verschweigt ist die Tatsache, dass wir mit wechselnden Begründungen und viel Überredung im Moment auch internistische Intensivpatienten bei den Chirurgen unterbringen. Dr. Valenta, seit Jahren Chef unserer Intensivstation, ist in Urlaub. Und Marlies, kaum weniger lange Intensivärztin als Valenta, ist seit zwei Wochen krank.
    Mit einem uns alle erschreckenden "dann mache ich das eben auch noch selbst" und der Unterstützung eines seiner Jungdoktors hatte daraufhin Chefarzt Zentis die internistische Intensivstation übernommen. Und ehe wir unsere intensivpflichtigen Patienten seinen medizinischen Künsten anvertrauen, legen wir sie lieber zu den Chirurgen und behandeln sie dort. Wovon Zentis natürlich nichts ahnt. So gesehen war es ausgesprochen gemein von mir, dass ich Herrn Sauerbiers Wunsch nach der internistischen Intensivstation erfüllt habe. Aber wenigstens mit EKGs und Herzkranzgefäßen kennt Zentis sich aus, hat er doch am Beginn seiner Karriere fünf Jahre lang nur im Herzkatheterlabor gestanden und nichts als Herzkranzgefäße untersucht. Keine Ahnung allerdings, welcher Ignorant den Patienten mit den immer noch geschlossen Augen in Bett zwei hierher gelegt hat. Oder die oder den in Bett vier. Denn deren Problem scheint nicht primär das Herz zu sein. Hoffentlich verließen die sich nicht auf Zentis als „Facharzt für Innere Medizin“. Denn diesen Facharzt und damit wenigstens eine Mindestkompetenz für Erkrankungen anderer Organe als das Herz hatte er nur mit Gefälligkeitszeugnissen unseres damaligen Chefs bekommen.
    Seit uns der Blinde in seiner Gewalt hat, frage ich mich: Wo ist eigentlich Jungdoktor Krämer? Das fragt sich wohl auch Chefarzt Zentis, der unnötig diskret immer mal wieder in Richtung Tür schaut.
    Im Moment ist Zentis allerdings nur dem Namen nach Chefarzt, der Blinde hat die Leitung unserer Intensivstation übernommen.
    "Schwester Renate, sagen Sie mir doch bitte: Was fehlt diesen drei Patienten?"
    Arzt ist er jedenfalls nicht, unser Blinder. Ein Arzt fragt vielleicht einen Patienten: "Was fehlt Ihnen denn?", überzeugt, das sowieso besser zu wissen, hätte aber die Frage an Renate sicher anders formuliert. Renate bleibt geschäftsmäßig.
    "Bett eins ist gerade erst gekommen. Verdacht auf Herzinfarkt. In Bett zwei liegt ein Patient mit Blutungen aus der Speiseröhre. Und in Bett vier eine Patientin mit terminalem Leberkoma."
    "Was heißt das?" fragt der Blinde nach.
    "Dass die Leber nicht mehr ihrer Entgiftungsfunktion nachkommen kann. Deshalb das Koma."
    "Ich meine: Was bedeutet 'terminal'?"
    Renate zögert einen Moment.
    "Das bedeutet, dass diese Patientin sehr, sehr krank ist."
    "Das bedeutet, dass sie in Kürze sterben wird", mischt sich Zentis ziemlich barsch ein.
    Sofort dreht
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