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Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser
Autoren: Clare Clark
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Brot verteilt wurde, und er wusste, ob es frühmor-
    gens oder Mitternacht war. Welcher Tag war, wusste er nicht.
    Der Anwalt ließ ihm mitteilen, dass sein Fall weiter untersucht
    würde und Grund zu vorsichtiger Hoffnung bestehe. William
    durfte den Brief nicht sehen. Er wurde ihm vorgelesen, von
    einem Wärter, der über die Worte stolperte und nach jeder Silbe
    Luft holte, als brächte er dem Krämersohn das Lesen bei. Wil-
    liam lauschte, und die Hoffnung fuhr ihm in die Eingeweide.
    Ein Gerichtsverfahren konnte er sich schon gar nicht mehr vor-
    stellen. Wenn man ihn aus seinem Grab hier unten im Bauch
    des Schiffes holte, würde ihn die gleißend helle Wintersonne
    blenden.
    Er war nicht verrückt. Aber in die leeren Stunden unter Was-
    ser sickerten Erinnerungen und Träume ein und drückten sei-
    ner Einsamkeit ihren grellen Stempel auf. Eines Abends, es war

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    schon spät – oder war es frühmorgens?, er wusste es nicht –,
    hatte er, als er sich auf die andere Seite drehte, für einen flüchti-
    gen Moment das Gefühl, Pollys karamellfarbene Augen spähten
    durch den Spalt in seiner rostigen Tür und er hörte das sanfte
    Murmeln ihrer Stimme inmitten der bestialischen Schreie der
    anderen Gefangenen. Aber als er ihren Namen rief, polterten als
    einzige Antwort die harten Stiefelschritte des Wärters durch den
    eisernen Korridor. Das alte brennende Verlangen stieg in ihm
    auf, so jäh, dass sich ein Schrei seiner Brust entrang und seine
    Haare bis zu den Wurzeln von schwarzem Feuer entflammt wur-
    den. Die Wände der Zelle waren vom Rost zerfressen. William
    presste die Fingerknöchel dagegen und rieb seine Wangen da-
    ran, bis sie aufgeschürft waren, als die Gier, sich mit dem Messer
    zu ritzen, übermächtig wurde. Mit den Fingernägeln über die
    Wand kratzend, mühte er sich hoch und ließ die Metallfesseln an
    seinen Gelenken scheuern, bis seine Haut brannte. Aber noch
    immer kein Blut. Er schloss die Augen. Die Begierde war jetzt so
    heftig, dass er förmlich das geschwungene Heft des Messers in
    seiner Faust spürte. Er packte es fest und stach zu, wieder und
    immer wieder. Das Gesicht sah ihn an, geisterhaft bleich, die
    Augen schwarze Höhlen. Er ließ die Hände sinken, zu Fäusten
    geballt, und biss sich auf die Zunge. Zuerst schmeckte er nur den
    schwarzen rußigen Staub seines Speichels. Dann füllte sich sein
    Mund mit Blut, warm und rot schoss es aus seiner Zunge, rann
    ihm über die Lippen und tropfte ihm triumphierend das Kinn
    hinunter.
    Polly hörte den Schrei, als sie dem Wärter voraus zur Zelle
    lief, aber sie sagte nichts. Sie hielt sich das Taschentuch an den
    Mund gepresst. Vor Ungeduld hätte sie den Wärter fast ange-
    schrien, der sich ungeschickt an der verriegelten Käfigtür zu
    schaffen machte. Den Saum ihres sorgfältig sauber gebürsteten
    Kleids verunstaltete ein Fleck. Ein besseres besaß sie nicht. Sie

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    hätte niemals kommen sollen. Jetzt wollte sie nur noch fort von
    hier und sich in das geschäftige Treiben draußen auf der Straße
    stürzen, um zu vergessen, was sie gesehen hatte.
    »Wollen Sie wirklich nicht, dass ich ihn wecke?«, fragte der
    Wärter noch einmal. Er runzelte die Stirn, als der Käfig erzitterte
    und scheppernd nach oben ruckelte.
    Polly schüttelte den Kopf. Etwas an der Art und Weise, wie der
    Anwalt gesprochen hatte, ließ sie nicht mehr in Ruhe. Vor sei-
    nem Auftauchen war alles in Ordnung gewesen. Sie hatte mit der
    Vergangenheit abgeschlossen, so wie sie das Haus in Lambeth
    abgeschlossen hatte, nachdem sie Stück für Stück alles, was ihr
    gehörte, und damit sich selbst daraus entfernt hatte, bis die Zim-
    mer leer und dunkel waren. Doch der Anwalt hatte etwas in ihr
    wachgerufen, eine winzige, flackernde Binsenlampe, die nicht
    mehr erlöschen wollte. Und so war sie gekommen. Wie er sie an-
    gesehen hatte, wie ein wildes Tier – sie wagte gar nicht daran zu
    denken. Sie hielt sich die Hand vor die Augen, um ein anderes
    Bild heraufzubeschwören, das Bild Williams in seinem Lehn-
    stuhl in Lambeth, Di auf dem Schoß. Die Öllampe flackerte und
    warf einen rußigen Lichtschein auf das Bilderbuch, das er mit
    dem Jungen betrachtete. Sie berührte ihn an den Schultern, und
    er sah zu ihr hoch, der Blick ruhig und gelassen; er trug einen ge-
    stärkten weißen Kragen und lächelte sanft. Hinter ihm kniete
    das Mädchen vor dem Kamin und rieb den Rost mit Ofen-
    schwärze ein.
    Die ruckartige Bewegung des Käfigs raubte ihr fast
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