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Der verlorne Sohn

Der verlorne Sohn

Titel: Der verlorne Sohn
Autoren: Karl May
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Augenblick stehen, theils um Athem zu holen, theils um sich erstaunt umzublicken.
    »Wie seltsam!« sagte sie. »Es ist hier ganz genau so, wie in der Tannenschlucht, da links die Tiefe und da oben vor uns der hohe Aussichtspunkt.«
    Er lächelte vergnügt in sich hinein und führte sie weiter. Endlich erreichten sie die Höhe. Da standen einige Büsche. Sie schritten um diese herum und dann, ja dann stieß Alma einen Ruf des Entzückens aus. Sie befanden sich auf einem schmalen, von einem festen Geländer eingefaßten Felsplateau, von welchem aus man eine weite, weite Fernsicht über Wald und Berg bis hinab in das Niederland genoß. Das Gesicht Alma’s strahlte vor Entzücken.
    »Ist das möglich?« fragte sie. »Ganz genau wie auf dem Tannenstein. Welche eine Ueberraschung, mein lieber, lieber Gustav!«
    Sie schlang die Arme um den Geliebten und küßte ihn zärtlich auf die Lippen.
    »Weiß Du noch?« fragte er, auf das Geländer deutend.
    »Was?«
    »Hier lehnten wir, und ich nannte Dich meinen lieben, süßen Sonnenstrahl.«
    »Ja. Und da kamen die Beiden, der Cousin –«
    »Den ich da hinabwerfen wollte –«
    »Und der Hellenbach –«
    »Den ich dann ermordet haben sollte!«
    »Bitte, denken wir nicht an diese Beiden! Aber die Täuschung ist wirklich zu groß. Wie hast Du das Alles fertig bringen können? Man glaubt wirklich, auf dem Tannenstein zu sein. Und da führt auch der Weg rechts in die Büsche, ganz so, als ob man da nach Schloß Hirschenau gelangen könne. Das liebe Schloß! Daß es damals abbrannte! Ich hatte meine Kinderjahre dort verlebt.«
    Er nahm ihre Arm in den seinigen und führte sie weiter, zwischen die Büsche hinein. Als sie da eine Strecke fortgegangen waren, fragte er: »Kannst Du Dich noch erinnern, wie Schloß Hirschenau ausgesehen hat?«
    »O, sehr gut. Ich glaube, ich könnte es sofort in allen Details auf Papier zeichnen.«
    »So wie das?«
    Er deutete aufwärts. Sie hatten den Rand des Buschwerkes erreicht. Alma blickte auf. Da lag es, ihr Geburtsschloß, welches die Schmiede weggebrannt hatten, ganz, ganz genau wie früher!
    Sie sagte kein Wort, aber sie biß sich auf die Lippen, um ihre Thränen zu besiegen; es gelang ihr nicht, sie stürzten sich doch hervor, unaufhaltsam und gewaltig.
    »Gustav, mein Gustav!« schluchzte sie. »Wie lieb mußt Du mich haben!«
    Er zog sie innig, innig an sich und antwortete:
    »So lieb, daß ich es Dir gar nicht sagen, gar nicht zeigen und beweisen kann.«
    »Ich ahne es: das ist der neue Bau, den Du vor mir so geheim gehalten hast?«
    »Ja.«
    »Du wolltest mich überraschen. Wie heißt das Schloß?«
    »Brandtenstein. Der König wollte es so haben, es sollte nach meinem Namen genannt sein.«
    »Es ist recht so. Hirschenau konntest Du es doch nicht nennen, da es dieses ja schon giebt. Dort wird Robert mit seiner Fanny wohnen.«
    »Komm, mein Herz! Da fährt unser Wagen bereits den Schloßberg heran.«
    Sie schritten weiter. Im Schloß sah man nur die Equipage und den Kutscher, sonst keinen Menschen. Die Beiden stiegen die Freitreppe empor. Alles, Alles war ganz genauso wie in ihrem Heimathsschlosse. Natürlich suchte Alma sogleich die Gemächer auf, welche so lagen wie diejenigen, welche sie damals bewohnt hatte. Das Vorzimmer war genau so wie ihr früheres. Sie schlug vor Freude die Hände zusammen und trat an das Fenster.
    »Schau!« sagte sie. »Was ist das für ein Ort da unten, lieber Gustav?«
    »Brandenstein.«
    »Das ist ja ganz neu!«
    »Ja, ich habe es neu gebaut, auch die Kirche. Und weißt Du, wer da wohnt?«
    »Wie kann ich das wissen!«
    »Alle Diejenigen, welche ich in letzter Zeit kennen lernte. Alle Die, welche meiner Hilfe bedurften, welchen ich als Fürst des Elendes eine Wohlthat erweisen konnte, habe ich hierher gerufen. Sie sollen hier wohnen als meine Unterthanen und an mir einen guten Herrn und Vater haben.«
    Sie blickte ihm innig in das Gesicht und sagte:
    »Du Guter! Und Dich konnte man für einen Mörder halten!«
    »Wir wollten daran doch nicht wieder denken! Bitte, komm weiter!«
    Er öffnete die Thür. Sie brachte vor Erstaunen kein Wort hervor. Auch diese Räume stimmten genau, aber da saßen doch ihre Nähterinnen und alle Diejenigen, welche an ihrer Ausstattung und Hochzeitstoilette zu arbeiten hatten. Diese Alle hatte sie heute doch in der Residenz gelassen.
    Brandt ließ ihr keine Zeit zur Besinnung. Er führte sie fort, einen Corridor hin, bis ein Diener herbei eilte und eine hohe, breite Flügelthür
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