Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Untertan

Der Untertan

Titel: Der Untertan
Autoren: Heinrich Mann
Vom Netzwerk:
gefalle; und als sie fragte, ob er schon im Theater gewesen sei, antwortete er nein. Er fühlte sich feucht vor Ungemütlichkeit und war fest überzeugt, sein Aufbruch sei das einzige, womit er das junge Mädchen interessieren könne. Aber wie war von hier fortzukommen? Zum Glück stellte ein anderer sich ein, ein breiter Mensch namens Mahlmann, der mit ungeheurer Stimme mecklenburgisch sprach, stud. ing. zu sein schien und bei Göppels Zimmerherr sein sollte. Er erinnerte Fräulein Agnes an einen Spaziergang, den sie verabredet hätten. Diederich ward aufgefordert, mitzukommen. Entsetzt schützte er einen Bekannten vor, der draußen auf ihn warte, und machte sich sofort davon. ›Gott sei Dank‹, dachte er, während es ihm einen Stich gab, ›sie hat schon einen.‹
    Herr Göppel öffnete ihm im Dunkeln die Flurtür und fragte, ob sein Freund auch Berlin kenne. Diederich log, der Freund sei Berliner. »Denn wenn Sie es beide nicht kennen, kommen Sie noch in den falschen Omnibus. Sie haben sich gewiß schon mal verirrt in Berlin.« Und als Diederich es zugab, zeigte Herr Göppel sich befriedigt. »Das ist nicht wie in Netzig. Hier laufen Sie gleich halbe Tage. Was glauben Sie wohl, wenn Sie von Ihrer Tieckstraße bis hierher zum Halleschen Tor gehen, dann sind Sie ja schon dreimal durch ganz Netzig gestiegen... Na, nächsten Sonntag kommen Sie nun aber zum Mittagessen!«
    Diederich versprach es. Als es soweit war, hätte er lieber abgesagt; nur aus Furcht vor seinem Vater ging er hin. Diesmal galt es sogar, ein Alleinsein mit dem Fräulein zu bestehen. Diederich tat geschäftig und als sei er nicht aufgelegt, sich mit ihr zu befassen. Sie wollte wieder vom Theater anfangen, aber er schnitt mit rauher Stimme ab: er habe für so etwas keine Zeit. Ach ja, ihr Papa habe ihr gesagt, Herr Heßling studiere Chemie?
    »Ja. Das ist überhaupt die einzige Wissenschaft, die Berechtigung hat«, behauptete Diederich, ohne zu wissen, wie er dazu kam.
    Fräulein Göppel ließ ihren Beutel fallen; er bückte sich so nachlässig, daß sie ihn wiederhatte, bevor er zur Stelle war. Trotzdem sagte sie danke, ganz weich, fast beschämt — was Diederich ärgerte. ›Kokette Weiber sind etwas Gräßliches‹, dachte er. Sie suchte in ihrem Beutel.
    »Jetzt hab ich es doch verloren. Mein englisches Pflaster nämlich. Es blutet wieder.«
    Sie wickelte ihren Finger aus dem Taschentuch. Er hatte so sehr die Weiße des Schnees, daß Diederich der Gedanke kam, das Blut, das darauf lag, müsse hineinsickern.
    »Ich habe welches«, sagte er, mit einem Ruck.
    Er ergriff ihren Finger, und bevor sie das Blut wegwischen konnte, hatte er es abgeleckt.
    »Was machen Sie denn?«
    Er war selbst erschrocken. Er sagte mit streng gefalteten Brauen: »Oh, ich als Chemiker probiere noch ganz andere Sachen.«
    Sie lächelte. »Ach ja, Sie sind ja eine Art Doktor... Wie gut Sie das können«, bemerkte sie und sah ihm beim Aufkleben des Pflasters zu.
    »So«, machte er, ablehnend, und trat zurück. Ihm war es schwül geworden, er dachte: ›Wenn man nur nicht immer ihre Haut anfassen müßte! Sie ist widerlich weich.‹ Agnes sah an ihm vorbei. Nach einer Pause versuchte sie: »Haben wir nicht eigentlich in Netzig gemeinschaftliche Verwandte?« Und sie nötigte ihn, mit ihr ein paar Familien durchzugehen. Es stellte sich Vetternschaft heraus.
    »Sie haben auch noch Ihre Mutter, nicht? Dann können Sie sich freuen. Meine ist längst tot. Ich werde wohl auch nicht lange leben. Man hat so Ahnungen« — und sie lächelte wehmütig und entschuldigend.
    Diederich beschloß schweigend, diese Sentimentalität albern zu finden. Noch eine Pause — und wie sie beide eilig zum Sprechen ansetzten, kam der Mecklenburger dazwischen. Die Hand Diederichs drückte er so kraftvoll, daß Diederichs Gesicht sich verzerrte, und zugleich lächelte er ihm sieghaft in die Augen. Ohne weiteres zog er einen Stuhl bis vor Agnes' Knie und fragte heiter und mit Autorität nach allem möglichen, was nur sie beide anging. Diederich war sich selbst überlassen und entdeckte, daß Agnes, so in Ruhe betrachtet, viel von ihren Schrecken verlor. Eigentlich war sie nicht hübsch. Sie hatte eine zu kleine, nach innen gebogene Nase, auf deren freilich sehr schmalem Rücken Sommersprossen saßen. Ihre gelbbraunen Augen lagen zu nahe beieinander und zuckten, wenn sie einen ansah. Die Lippen waren zu schmal, das ganze Gesicht war zu schmal. ›Wenn sie nicht so viel braunrotes Haar über der Stirn
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher