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Der unersättliche Spinnenmann

Der unersättliche Spinnenmann

Titel: Der unersättliche Spinnenmann
Autoren: Pedro Juan Gutierrez
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offen stehen? Wie war das möglich? Bin ich denn bescheuert? Das Schwein hat’s in der Schwanzspitze gehabt, der ist seit ‘nem Monat nicht mehr gekommen. Zwei Liter Milch hat er mir verpasst, der Hurensohn. Ausgerechnet mir muss das passieren! Gab ja auch keine andere im ganzen Park. Wenn ich eine Pistole gehabt hätte, ich hätte ihn umgelegt.‹ Schäumend vor Wut rannte sie weg, auch wenn sie dauernd ausrutschte. Fluchte und zitterte vor Kälte, vor Stress, vor hilflosem Zorn.
    In wenigen Minuten erreichte sie das Apartment ihrer Cousine. Sie stieg die Treppen zum zweiten Stock hinauf. Holte die Schlüssel heraus und hielt inne, bevor sie die Tür öffnete. Sie schloss die Augen und dachte: ›Ganz ruhig, Silvia, ganz ruhig.‹ Sie fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht, über den Mantel. Es war alles schon trocken. Sie strich sich das Haar glatt und versuchte sich wieder zu konzentrieren: ›Also, nichts passiert, ganz ruhig.‹ Sie öffnete die Tür und trat lächelnd ein. Niemand war da. Auf dem Tisch eine Nachricht, mit roter Tinte auf einen weißen Zettel geschrieben: ›Kommen spät nach Haus. Iss schon mal allein. Im Kühlschrank steht Hühnchen.‹ Sie stand da und las die Nachricht, ein ums andre Mal. Viele Male. Sie ging zur Stereoanlage und schaltete sie ein. Eine CD lag drin, »Sturm« von Jean Sibelius. Die Musik überschwemmte Silvia langsam. Die Okeaniden. Sie ging ins Bad. Ließ die Tür auf. Zog sich aus. Warf ihre ganze Kleidung auf einen Haufen. Später würde sie sie in den Müll schmeißen, mitsamt dem Mantel, der trockene, weiße Flecken vom Sperma trug. Sie duschte lange und wusch sich sorgfältig das Haar. Putzte sich zweimal die Zähne. Trocknete sich ab und besprühte sich mit viel Kölnischwasser. Sie verspürte immer noch Ekel. Die Wohnung war gut geheizt, und sie ging nackt ins Wohnzimmer zurück, hörte die Musik. Sie ließ sich in einen Sessel fallen, warf den Kopf nach hinten, schloss die Augen und vergaß alles. Es gab nur Sibelius. Im Crescendo.
     
    Einen Monat später kehrte sie nach Havanna zurück. Neun Monate war sie unterwegs gewesen. Sechs Monate in Madrid und drei in New York. Hatte nach Galerien gesucht, die sich für ihre Bilder interessierten. Ich wartete am Flughafen auf sie. Sie war überrascht, mich zu sehen. Sie sagte es nicht, doch ich las es in ihren Augen: Sie hatte nicht erwartet, dass ich käme, nach so langer Zeit und einer Reihe von heftigen Streitereien am Telefon. Vor allem in den letzten drei Monaten. Doch ich war verliebt wie ein kranker Hund. Das ist das Schlimmste, was einem Mann passieren kann. Sich unsterblich in eine schöne Frau zu verlieben. Wir fuhren in ihr Studio. Warfen ihr Gepäck ungeöffnet in die Ecke und küssten uns. Ein Zungenkuss mit allen Schikanen. Wir vergaßen die neun Monate Trennung und die Streitereien am Telefon. Wir vögelten wie zwei Verrückte. Genauso wie immer. So ging das ein paar Tage. Eines Nachmittags lagen wir ausgepumpt zusammen im Bett. Ich erinnere mich noch genau. Sie sagte:
    »Ich muss dir was sagen.«
    »Was denn?«
    »Ich hab vielleicht ‘ne Krankheit.«
    »Wieso? Hast du ohne Gummi gevögelt?«
    »Ich bin vergewaltigt worden, im Central Park, in der Nähe der Wohnung meiner Cousine.«
    »Ah, erzähl kein’ Scheiß, Silvia.«
    »Im Ernst.«
    »Nein, nein.«
    »Doch.«
    »Uff. Und da hast du bis jetzt gewartet, es mir zu sagen? Du bist wirklich die ausgeflippteste Frau von ganz Kuba!«
    Sie schwieg und sah mich an. Sah, dass ich stocksauer war, und veränderte sich von einem Augenblick zum andern.
    »Hahaha. Das war ein Witz. Glaub mir bloß nicht.«
    »Ein Witz?«
    »Ja, hahaha.«
    »Natürlich haben sie dich vergewaltigt. Von wegen Witz.«
    »Sei doch nicht so. War doch nur ein Spiel.«
    Wir schwiegen und starrten vor uns hin. Ich stand auf, ging in die Küche und machte Kaffee. Wurde fuchsteufelswild. Bekam eine Mordswut. Hatte Lust, mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen und alles zusammenzutreten. Als ich mit dem Kaffee zurückkam, hatte Silvia es sich anders überlegt und sagte:
    »Beruhige dich und flipp nicht aus. Ich werd dir erzählen, wie’s passiert ist.«
    Sie erzählte mir alles. Ohne eine Einzelheit auszulassen. Nicht einmal Sibelius. Meine Wut ging vorbei. Aber ich konnte es nicht vergessen. Eine Woche später trennten wir uns. Silvia wollte unbedingt ganz weggehen. Nach Miami oder nach New York. Sie sprach nur noch davon. Völlig zwanghaft. »Ich fühle mich wie in einem Käfig. Diese Insel
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