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Der Überraschungsmann

Titel: Der Überraschungsmann
Autoren: Hera Lind
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Erbe meiner Söhne kämpfen«, zischte Wiebke unter ihrem Mundschutz hervor. »Sobald er ansprechbar ist, gehe ich als Erste rein. Ihr könnt euch alle hinten anstellen. Ich habe hier die ältesten Rechte.«
    »Deswegen bin ich auch hier«, sagte Gerlinde, die Kindergärtnerin, mit sanfter Stimme. »Mein Benedikt will schließlich auch studieren. Ich gehe dann als Zweite rein.«
    »Und dann kommst du dran, Barbara …« Wiebke schenkte mir ein gönnerhaftes Lächeln. »Falls er dann noch lebt.« Sie lachte heiser.
    Was war denn das hier für eine Hackordnung?
    Entgeistert sah ich von einer zur anderen.
    Lisa lehnte blass, aber gefasst an der Fensterbank. »Und ich vertrete hier Fannys Interessen«, sagte sie. »Falls er das Testament noch nicht auf den neuesten Stand gebracht hat.«
    »Ja, wie viele Kinder hat er denn noch?«, fragte Gerlinde unangenehm überrascht. »Da bleibt ja für meinen Benedikt gar nicht mehr viel übrig!«
    In diesem Moment erbrach sich die kleine Russin auf den Linoleumfußboden.
    »Sie können jetzt reinkommen!«
    Die Tür zu Volkers Krankenzimmer wurde von innen geöffnet, und eine freundliche Krankenschwester steckte den Kopf heraus. »Er ist über den Berg! Machen Sie sich keine Sorgen – er ist erstaunlich robust!« Sie lachte froh. »Er könnte schon wieder kleine Götter zeugen!«
    Ach nein!, dachte ich. Das ist vielleicht keine so gute Idee.
    »Also, er möchte als Erste seine Frau sehen!«, rief die Krankenschwester. »Barbara! Wer von Ihnen ist Barbara?«
    Sie wurde beinahe überrollt.
    Alle Frauen stürmten auf einmal hinein. Alle, bis auf mich.
    Irgendwie zog es mich zum Ausgang. Ich konnte da jetzt nicht rein. Ich wollte ihn nicht sehen und mir weitere Beteue rungen anhören, dass er NUR MICH liebte und mich NIE WIEDER BELÜGEN würde. Mir war im Moment völlig egal, ob er sterben oder weitere junge Götter zeugen würde. Mein Leben mit ihm war endgültig vorbei. Langsam zog ich mir die grüne Kluft aus und warf das Zeug in einen bereitstehenden Korb. Kopfschüttelnd schleppte ich mich durch die nach Desinfektionsmitteln riechenden Flure. Dreimal war ich schon hier gewesen: einmal, um Lisa beizustehen, und zweimal, um Volkers Kinder zur Welt zu bringen. Jetzt schlich ich im Zeitlupentempo wieder hinaus.
    Das Ausmaß seines Betruges war noch viel höher als ursprünglich gedacht. Er betrog mich nicht erst seit zwei Jahren. Er betrog mich seit fünfzehn Jahren. Und Wiebke hatte davon gewusst. Wie sollte ich damit fertig werden? Ich wollte nur noch weg, möglichst weit weg. Am liebsten ans andere Ende der Welt.
    Und ich hatte tatsächlich mit dem Gedanken gespielt, zu ihm zurückzukehren? Ja, mir noch die Schuld für seinen Zustand gegeben? Wer würde mir jetzt Kraft geben, das zu verarbeiten?
    Unten auf dem Parkplatz lehnte Justus hemdsärmelig an meinem Auto. Er hatte ein Päckchen auf die Motorhaube gelegt.
    »Wie geht es ihm?«
    »Er könnte schon wieder kleine Götter zeugen.«
    »Und wie geht es dir?«
    »Ich weiß nicht. Ich bin völlig durcheinander. Ich glaube, ich möchte einfach nur weg …«
    Justus nahm meinen Arm. »Ich möchte dir einen neuen Klienten vorstellen. Er ist in einer sehr hohen Führungsposition und braucht dringend ein Coaching für sich und seine Mannschaft.«
    »Oh, Justus, sei mir nicht böse, aber heute Abend kann ich nicht mehr auf verkorkste Manager eingehen.«
    »Lass dich einfach nur zum Essen einladen, ja?«
    Ich hatte das Gefühl, nie wieder in meinem Leben etwas essen zu können.
    Justus hielt mir galant die Wagentür auf: »Deinen lassen wir hier einfach stehen. Nimm das Päckchen mit.«
    »Was ist da drin?«
    »Du wirst schon sehen. Der Klient wartet übrigens im Schlosshotel Mönchstein.«
    Vom Landeskrankenhaus aus waren wir in fünf Minuten auf dem Mönchsberg. »Weißt du noch, wie wir uns da oben auf der Richterhöhe kennengelernt haben?«, sagte Justus.
    »Ja. Dort hast du mir eine Scherbe aus dem Fuß gezogen. Verdammt schmerzhaft war das.«
    Plötzlich fielen mir die Worte der Seherin wieder ein. Genau das hatte sie doch gesagt: »Sie sind ihm schon mal begegnet. Er war eine schmerzhafte Begegnung.«
    »Und inzwischen hast du mir eine Scherbe aus dem Herzen gezogen«, sagte ich seufzend. »Ohne dich und dein verrücktes Seminar wäre ich nie mit dieser Sache fertiggeworden. Und ich bin es immer noch nicht. Schon gar nicht nach dem, was ich eben erlebt habe.«
    Justus lenkte den Wagen über die Serpentinen hinauf. »Heute waren
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