Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen
Autoren: Philip Pullman
Vom Netzwerk:
verheiratet. Das Ganze ist von vorn bis hinten erlogen.«
    Er schaute sie in einer Art und Weise an, die ihr bekannt vorkam: spöttisch, nachsichtig und klug. So hatte Mr Temple sie früher angeschaut, nur dass bei dem alten Herrn echter Humor und tiefes Wissen dahinterstanden.
    »Ich denke, Sie sollten es Ihrem Rechtsbeistand überlassen, zu beurteilen, was juristisch von Belang ist und was nicht«, sagte er mit einem Lächeln. »Gewiss, der entscheidende Punkt Ihrer Verteidigung wird darin liegen, dass diese Eheschließung nie stattgefunden hat. Doch wir müssen auf alle Eventualitäten gefasst sein. Es wäre bedauerlich, wenn wir unsere Verteidigung nicht von allen Seiten absichern würden. Wir müssen die Anschuldigungen Punkt für Punkt durchgehen und das Gericht davon überzeugen, dass es für alles eine plausible Erklärung gibt. Als Erstes …«
    Er nahm ein Blatt Papier aus der Schublade und schnippte den Deckel eines Tintenfasses auf. Sein Schreibtisch war bis auf den Tintenlöscher und ein silbernes Tintenfass leer geräumt. Sally mochte Arbeitstische, die mit Büchern, Papieren, Schreibutensilien, Siegellack und allem, was sonst noch nach getaner Arbeit liegen bleibt, übersät waren. Wenn sie da an ihren Schreibtisch dachte – doch halt!, ermahnte sie sich selbst, keine Vergleiche.
    Mr Adcock tunkte die Feder in die Tinte und streifte sie sorgfältig am Rand des Tintenfasses ab, um Kleckse zu vermeiden.
    »Also«, begann er. »Wann sind Sie Mr Parrish zum ersten Mal begegnet?«
    Sally atmete tief durch. »Ich bin Mr Parrish nie begegnet. Bis heute Morgen hatte ich noch nie von ihm gehört. Mr Adcock, bei allem Respekt, aber es lohnt sich nicht, Zeit auf diese absurden Behauptungen zu verschwenden. Der springende Punkt an der ganzen Sache ist doch, ob ich mit ihm verheiratet bin oder nicht, und ich bin es nicht.«
    »Natürlich, natürlich«, beschwichtigte sie Mr Adcock. »Das ist der entscheidende Punkt Ihrer Verteidigung, so viel ist sicher. Der Kläger wird beweisen müssen, dass eine Eheschließung stattgefunden hat, und wenn, wie Sie sagen, dies nicht der Fall ist, dann wird es auch keine Heiratsurkunde geben, keine Eintragung im Kirchenregister von St. Thomas in Southam, Hampshire. Aber Sie sehen doch, dass diese Behauptungen darauf abzielen, den Beweis zu erbringen, dass Sie nicht geeignet sind, das Sorgerecht für Ihr Kind auszuüben. Und diese Unterstellung wollen Sie doch nicht so im Raum stehen lassen, oder?«
    »Gewiss nicht. Aber ich würde ihm das Recht absprechen, so etwas zu behaupten.«
    »Ebendas ist aber geschehen. Deswegen müssen wir ja alles Punkt für Punkt zurückweisen. Sie dürfen nichts verschweigen, Miss Lockhart.«
    »Ich verschweige doch gar nichts!«
    »Sie haben die Geburt Ihres Kindes verschwiegen«, sagte er mit vorwurfsvollem Blick.
    Sie antwortete nicht. Dann seufzte sie tief.
    »Also gut«, sagte sie schweren Herzens und zwang sich, möglichst gerade zu sitzen. »Womit sollen wir anfangen, Mr Adcock?«
     
    Anderthalb Stunden später verließ Sally Mr Adcock, der seine mit akkurater Handschrift bedeckten Blätter ordnete. Dann schaute sie noch einmal bei dem alten Kanzleiangestellten vorbei, um sich zu verabschieden.
    »Mr Bywater, was macht eigentlich ein Kommissionär?«, fragte sie.
    »Ist das nicht das Gewerbe, das dieser Parrish angeblich betreibt?«, fragte Mr Bywater. »Nehmen wir mal an, da arbeitet jemand in der Kolonialverwaltung in Kalkutta. Der möchte nun ein paar Sachen nach Hause schicken und sicher sein, dass alles unversehrt bei seinem lieben Mütterchen in Littlehampton ankommt. Keine einfache Aufgabe, mehrere Pakete. Der Kommissionär kümmert sich drum. Oder jemand reist zum ersten Mal geschäftlich in den Fernen Osten. Da muss er die Gewähr haben, dass sein Warenmuster – ein dampfbetriebener Sodaflaschenöffner für Linkshänder, der allein schon anderthalb Tonnen wiegt – unbeschädigt in Schanghai ankommt, damit er dem dortigen Gouverneur zeigen kann, wie das Ding funktioniert. Der Kommissionär kümmert sich drum. Regelt die Lieferung, die Versicherung, Lagerung, Verpackung, alles. Dafür bekommt er dann eine Kommissionsgebühr. Daher der Name. Manche sind auch als Heiratsvermittler tätig. Stellen eine Ladung hübscher Puppen zusammen, auf die keiner Anspruch erhebt, verfrachten sie auf ein Schiff, bringen sie nach Bombay und bekommen dann, wenn’s klappt, eine Vermittlungsgebühr vom glücklichen Gatten und ein Stück von der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher