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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen
Autoren: Philip Pullman
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auf, lief zu ihr, hob sie hoch und umarmte sie leidenschaftlich. Sie wollte sie ganz eng an sich spüren, achtete aber darauf, ihr nicht wehzutun.
    Harriet ertrug es geduldig, mit Umarmungen musste man leben. Sally küsste sie und setzte sie wieder ins Gras. Harriet nahm das Tau wieder auf und zupfte weiter.
    »Ich mache mich gleich auf den Weg ins Gerichtsviertel«, sagte Sally zu Sarah-Jane. »Ich muss das meinem Anwalt zeigen. Selbstverständlich ist das blanker Unsinn. Der Mann muss verrückt sein. Aber ich muss trotzdem mit meinem Anwalt sprechen. Die Verhandlung ist – «
    »In vierzehn Tagen«, sagte Sarah-Jane. »Vor dem Königlichen Gerichtshof. So steht es hier.«
    Sally nahm die Papiere an sich. Nur widerwillig fasste sie sie an und schob sie in das Kuvert zurück. Dann küsste sie Harriet einmal, zweimal, dreimal und machte sich zurecht, um den nächsten Zug nach London zu nehmen.
     
    Sallys langjähriger Anwalt, Mr Temple, ein alter Freund ihres Vaters, der ihr bei den ersten Schritten in die berufliche Selbstständigkeit geholfen hatte, war im vergangenen Jahr gestorben. Der führende Anwalt in der Kanzlei war nun Mr Adcock, von dem ihr bisher nicht viel bekannt war. Was sie von ihm wusste, machte ihn in ihren Augen nicht gerade sympathisch, aber so durfte sie jetzt nicht denken. Er war ein glatter, jüngerer Mann, der so sehr auf den Zuspruch seiner älteren Kollegen bedacht war, dass er deren Ansichten, Gebaren und Eigenheiten nachahmte. Mr Temple hatte Tabak geschnupft und bei ihm sah das ganz natürlich aus. Mr Adcock machte es ihm nach, aber bei ihm wirkte es aufgesetzt. Sally hatte ihn nie in seinem Club gesehen, aber wenn sie einmal dabei gewesen wäre, hätte sie über seine konservativen Ansichten die Stirn gerunzelt. Zumal er diese Ansichten immer dann besonders vernehmlich äußerte, wenn angesehene ältere Clubmitglieder in Hörweite waren.
    Als Sally in der Kanzlei eintraf, war Mr Adcock noch mit einem anderen Klienten beschäftigt. Sie setzte sich deshalb zu Mr Bywater, der schon seit fünfzig Jahren für die Kanzlei arbeitete und ihre Verhältnisse besser kannte als Mr Adcock. Sie war so nervös, dass sie nicht umhinkonnte, ihm zu erzählen, weswegen sie gekommen war.
    Der alte Mann blieb still sitzen und hörte sich ihre Geschichte an, ohne eine Miene zu verziehen. Sie fürchtete sich zwar vor seiner scharfen Zunge, dennoch fühlte sie sich besser, als sie alles erzählt hatte.
    »Ach Herrjemine!«, sagte er schließlich. »Warum haben Sie Mr Temple, Gott hab ihn selig, nichts von dem Kind gesagt?«
    »Weil … Oh, Mr Bywater, können Sie sich das nicht denken? Er war doch krank. Und ich hatte ihn so gern. Ich wollte nicht, dass er seine gute Meinung über mich verliert.«
    »Seine gute Meinung gründete sich auf Ihren Verstand«, bemerkte Mr Bywater trocken, »nicht auf Ihren beispielhaften Lebenswandel. Sie hätten es ihm sagen sollen. Wie heißen doch gleich die Anwälte dieses Kerls? Grant, Murray und Girling. Hmm. Mal sehen, was ich herausfinden kann. Aber ich glaube, Mr Adcock hat jetzt Zeit für Sie.«
    Er hob den Kopf, lauschte und öffnete die Tür, um sie anzumelden.
    Mr Adcock war die Zuvorkommenheit in Person. Das ist eine rein geschäftliche Beziehung, sagte sich Sally. Er ist Anwalt, in Rechtsfragen versiert, also sieh über sein Getue hinweg.
    Sie legte ihm die Tatsachen so klar wie möglich dar, angefangen bei ihrer Tochter Harriet. Mr Adcock hörte ihr aufmerksam und mit zunehmend ernster Miene zu. Hin und wieder machte er sich eine Notiz.
    »Darf ich den Klageantrag einmal sehen?«, fragte er, nachdem sie fertig war.
    Während er las, saß sie zitternd, aber aufrecht und gefasst da.
    »Was der Kläger gegen Sie vorbringt, ist sehr schwerwiegend«, kommentierte er nach beendeter Lektüre. »Er spricht von böswilligem Verlassen, Veruntreuung von Vermögen, sogar von Trunkenheit … Miss Lockhart, darf ich Sie fragen, ob Sie trinken?«
    »Ob ich trinke? Ab und zu ein Glas Sherry, aber was um Himmels willen hat das hiermit zu tun?«
    »Wir müssen uns unserer Ausgangsposition sicher sein. Die Dienstboten zum Beispiel, deren Entlassung angeführt wird: Wenn wir genau darlegen könnten, was geschehen ist, könnten wir auch eine solide Verteidigung aufbauen.«
    Sally war entsetzt. »Mr Adcock, diese Dienstboten hat es nie gegeben, genauso wenig wie den Haushalt in der – wo war es doch gleich – Telegraph Road in Clapham. Ich war auch nie mit einem Mr Parrish
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