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Der Teufel von New York

Der Teufel von New York

Titel: Der Teufel von New York
Autoren: Lyndsay Faye
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seit zwei Jahren ein Waisenkind war, dürr, blass, zwölf Jahre alt. Es gelang mir damals, durch pure Hartnäckigkeit eine Anstellung bei einem ungeschlachten, aber freundlichen walisischen Fährmann zu erbetteln, und zwar in der magersten Zeit, die Valentine und ich jedurchzustehen hatten, in der wir uns einmal eine Woche lang nur von mehligen Äpfeln ernährten. Vielleicht wurde ich als Schiffsjunge eingestellt, weil der Mann genau das vermutet hatte. Ich erinnere mich, wie ich am Bug stand, an der Reling, die ich gerade poliert hatte, bis meine Finger wund waren, und den Kopf zurückwarf, als mitten im immer noch gleißenden Sonnenschein ein Gewittersturm losbrach. Fünf Minuten lang tanzten Gischt und Regen im grellen Licht, und fünf Minuten lang machte ich mir keine Gedanken darüber, ob es meinem Bruder auf Manhattan Island schon gelungen war, sich umzubringen. Ich fühlte mich wundervoll. Wie ausgelöscht.
    Mercy umfasste meinen Arm ein wenig fester. »Was hat Ihre Anekdote mit meiner Frage zu tun?«
    Sei ein Mann und spring ins kalte Wasser , dachte ich.
    »Vielleicht will ich Sie ja gar nicht Miss Underhill nennen«, antwortete ich ihr. »Vielleicht würde ich Sie gern Mercy nennen. Wie möchten Sie denn am liebsten genannt werden?«
    *
    In jener Nacht in Nick’s Austernkeller war ich ein Talisman, ein strahlender Glücksbringer. All die bleichen Falschspieler, alle, die süchtig waren nach Glücksspielen, Champagner, Morphium und was weiß ich was noch, all die Sonderlinge, die am Börsenmarkt herumgeisterten und mit feuchtem Händedruck in den Hinterzimmern der Kaffeehäuser ihre Handel abschlossen, sie alle glaubten, mich habe das Schicksal geküsst, und wollten auch etwas davon abhaben. Ein Drink, serviert von Timothy Wilde, war so viel wert, wie wenn einer der Astors einem auf die Schulter klopfte.
    »Noch drei Flaschen Schampus«, schrie ein schmächtiges Kerlchen namens Inman. Er bekam kaum Luft, so hart bedrängt war er von schwarz umhüllten Ellenbogen auf allen Seiten. Ich fragte mich manchmal, warum die Finanziers sich, kaum hatten sie den Handelssaal der Börse verlassen, gleich in den nächstenüberfüllten Raum stürzen mussten, in dem man vor Hitze schier umkam.
    »Trink ein Glas auf meine Rechnung, Tim, der Baumwollkurs steht im siebten Himmel, das ist besser als eine Pfeife Opium!«
    Die Leute erzählen mir alle möglichen Sachen. Das haben sie schon immer getan. Die Informationen rinnen aus ihnen heraus wie getrocknete Bohnen aus einem aufgeschlitzten Sack. Jetzt, da ich in einem Austernkeller arbeitete, war es noch schlimmer geworden. Das war ungeheuer nützlich, aber manchmal auch anstrengend – als wäre ich zur einen Hälfte Barmann, zur anderen ein mitternächtliches Loch, das man auf die Schnelle ausgehoben hatte, um Geheimnisse darin zu versenken. Wenn Mercy das doch nur auch täte, was für ein Wunder wäre das.
    Als abends um neun die Sonne unterging, lief mir der ehrliche Arbeitsschweiß in Strömen den Rücken hinunter. Männer, die aus anderen Gründen schwitzten, bestellten Drinks und Austern, als habe man die Welt aus ihrer Achse geworfen. Offensichtlich will der Mensch nichts anderes als feiern bis zum Umfallen, bevor wir alle die letzte Talfahrt antreten müssen. Ich schuftete für zehn, jonglierte mit den Bestellungen, gab freundschaftliche Sticheleien zurück und zählte den Münzregen.
    »Was gibt’s für gute Neuigkeiten, Timothy?«
    »Wir haben genug kalten Sekt, um eine Arche flott zu kriegen«, schrie ich Hopstill zu, der soeben wieder aufgetaucht war. Hinter mir erschien Julius mit einem Kübel frischem Eis.
    »Die nächste Runde geht aufs Haus.«
    Für mich sah die Sache folgendermaßen aus: Mercy Underhill hatte keiner meiner Bemerkungen widersprochen. Weder mit einem Nein noch mit einem »Da liegen Sie aber falsch« oder einem »Lassen Sie mich in Ruhe«. Stattdessen hatte sie eine ganze Menge völlig zusammenhangloser Dinge gesagt, bevor ich sie an der Ecke Pine und William Street allein ließ, in einer Brise von Osten, wo aus den Kaffeehäusern der köstliche Duft von frisch geröstetem Kaffee in die schwere Luft hinaufstieg.
    »Ich kann es ja verstehen, dass Sie meinen Familiennamen nicht mögen, Mr. Wilde. Ich habe bei diesem Namen immer das Gefühl, schon im Grab zu liegen«, sagte sie zum Beispiel. Und dann noch: »Ihre eigenen Eltern, Gott hab sie selig, besaßen die Großherzigkeit, Ihnen den Nachnamen eines Lordkanzlers von Großbritannien zu
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