Der Tee der drei alten Damen
ungemütlich, ihn fröstelte im kühlen Morgen. Baranoff machte Bilanz: Sich an die Sowjetdelegation wenden? Unmöglich. Sie würde ihn desavouieren. Dumme Sache. Er war mit einer Mappe gefaßt worden, die einem Ermordeten gehörte. Was machte Natascha? Hatte Natascha ihn verraten? Nein! Dazu war die Frau zu dumm. Und jetzt? Adieu, Burgund, gutes Essen, Wein. Man mußte schauen, einen guten Advokaten aufzutreiben, der eine Entlassung gegen Kaution ermöglichen könnte. Er kannte niemanden. Als um sechs Uhr der Riegel knallte und ein alter Aufseher mit einem weißen Spitzbart die Gamelle mit Kaffee hereinschob, markierte Baranoff eine Ohnmacht.
Der Aufseher schien menschlich zu fühlen, er öffnete die Türe, kam näher, stützte den Towarisch Baranoff und ließ ihn das heiße Gesöff trinken, das sie hier Kaffee nannten. Baranoff stöhnte. Mit ersterbender Stimme verlangte er Papier und Feder. Er wolle an einen Advokaten schreiben. Ob der Herr Oberaufseher (Baranoff war nicht zum erstenmal in einem Gefängnis, er kannte die Eitelkeit der Menschen, die unter dem Gefängnispersonal noch größer ist als draußen), ob der Herr Oberaufseher ihm nicht einen guten Advokaten angeben könne?
Da sagte der alte Mann:
»Ich hab einen Sohn, der bei einem berühmten Advokaten Chauffeur ist. Ein guter Advokat, geschickt, ein wenig teuer…«
»Geld spielt keine Rolle«, sagte Towarisch Baranoff großartig. »Wenn er nur tüchtig ist…«
»Er hat schon viele Politische verteidigt…«, sagte der alte Mann.
»Wie heißt er denn? Und darf ich überhaupt schreiben?«
»Oh«, der alte Mann stellte die Gamelle ab, »Herr Untersuchungsrichter Despine ist nicht so. Natürlich gehen die Briefe durch die Zensur. Aber an Ihren Advokaten dürfen Sie natürlich schreiben.«
»Na, wie heißt denn der große Advokat?« fragte Baranoff ungeduldig.
»Wie er heißt?« wiederholte der alte Mann gedehnt. »Früher hieß er Isaak Rosenstock. Jetzt nennt er sich Rosène.«
»Und… hat… einen… Bruder… der Arzt ist?,« fragte Baranoff stockend.
»Ja, ich glaube… Was ist denn los?«
Baranoff fühlte einen leisen Schwindel, er legte sich aufs Bett zurück, schloß die Augen. Plötzlich reckte er sich auf.
»Ja«, sagte er energisch. »Maître Isaak Rosène wird gerade der sein, den ich brauchen kann. Wollen Sie den Brief in einer halben Stunde holen kommen?«
»Das ist zu früh«, der alte Wärter sprach gemütlich. »Vor neun Uhr ist Herr Despine nie hier, manchmal wird es auch halb zehn.«
»Ich danke Ihnen«, sagte Baranoff würdevoll. »Aber, da ich mich selbst verköstigen darf, wünsche ich ein anständiges Frühstück: Butter, Käse, Konfitüre, zwei weiche Eier, ein Stück gebratenen Speck und eine halbe Flasche Macon. Verstanden?«
»Ich werde Ihnen Butter und Konfitüre bringen«, antwortete der Alte gemütlich. »Den Rest müssen Sie sich denken. Es ist ungesund, am Morgen so viel zu essen.«
Die Tür fiel zu. Baranoff fluchte…
10
Die drei Brüder Rosenstock saßen beim Frühstück. Alle drei waren übermüdet. Die letzte Nacht war anstrengend gewesen. Jakob, der Gymnasiast, starrte trübsinnig in seine geleerte Tasse, goß den verbliebenen Kaffeesatz in die Untertasse und begann ihn dort zu seltsamen Figuren auseinanderzuziehen.
»Laß das!« knurrte Wladimir, der Assistenzarzt. Jakob blickte erstaunt auf. Wladimir hatte sonst einen ausgeglichenen Charakter, Launen waren ihm fremd, darum war es erstaunlich, daß er wegen einer harmlosen Spielerei ungeduldig wurde.
»Na, na, was ist denn los?« fragte Isaak, der Advokat, beschwichtigend.
»Nichts!« sagte Wladimir gereizt. »Ich hab die letzte Nacht schweren Dienst gehabt.«
»Im Spital?« fragte Isaak unschuldig.
»Wo denn sonst…«
»Merkwürdig«, sagte der Advokat, mehr für sich. »Ich habe dir um Mitternacht angeläutet, aber man hat mir mitgeteilt, daß du überhaupt nicht im Spital erschienen seiest.«
»Seit wann spionierst du mir nach?« Wladimirs Gesichtsfarbe war gelblich, nur über den Backenknochen war die Haut rötlich gesprenkelt.
»Spionieren! Ich habe doch gar nicht spioniert. Ich wollte dich nur etwas fragen.«
»Was denn? War es so wichtig?«
»Einesteils schon. Ich wollte den Professor bei uns unterbringen, bis die ganze Geschichte mit den Morden endgültig geklärt ist. Und ich hätte gern deine Zustimmung gehabt.«
»Seit wann brauchst du meine Zustimmung? Du handelst doch immer, wie es dir paßt. Wenn du mit den Gesetzen in
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