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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke
Autoren: R. Scott Bakker
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hatte oft von diesem Ort geträumt. Es handelte sich um die Mauer der Toten, an die man Seswatha, der nach dem Untergang Trysës gefangen genommen worden war, genagelt hatte, damit er über die Herrlichkeit der Rathgeber nachdachte.
    Nautzera hing direkt vor ihm. Nägel staken ihm in Oberschenkeln und Unterarmen. Er war nackt bis auf den Agonischen Halsreif und schien kaum bei Bewusstsein.
    Achamian faltete die zitternden Hände und presste sie zusammen, bis alles Blut aus ihnen gewichen war. Dagliash war einst ein bedeutender Wachposten gewesen und hatte über die Wildnis von Agongorea nach Golgotterath geblickt. Hartherzige Aörsi hatten dort Dienst getan. Nun war diese Festung nur noch eine Zwischenstation auf dem Weg zum Weltuntergang. Die Aörsi waren vernichtet, und die großen Städte von Kûniüri waren kaum mehr als ausgenommene Muscheln. Die Nichtmenschen waren in ihre Bergfestungen geflohen, und die verbliebenen Nationen der Norsirai – Eämnor und Akksersia – kämpften ums Überleben.
    Drei Jahre waren seit der Ankunft des Nicht-Gottes vergangen. Achamian spürte ihn bedrohlich am westlichen Horizont lauern. Ein Gefühl von Verhängnis überkam ihn.
    Eine Böe wehte ihm kalte Gischt ins Gesicht.
    Nautzera… ich bin’s! Achamian –
    Ein quälender Schrei unterbrach ihn. Er duckte sich, obwohl er wusste, dass ihm nichts geschehen konnte, und spähte in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Dabei umklammerte er das blutbefleckte Holzgeländer.
    Auf einer tiefer gelegenen Ebene des Gerüsts beugte sich ein Bashrag über einen um sich schlagenden Schatten. Schwarzes Haar flatterte von den faustgroßen Leberflecken, die die massige Gestalt des Bashrag übersäten. Von großen, brutalen Wangen abgesehen, besaß er nur Ansätze eines Gesichts. Plötzlich erhob er sich – jedes Bein bestand aus drei miteinander verbundenen Beinen, jeder Arm aus drei Armen – und hielt einen bleichen Mann in die Höhe, der an einem speerlangen Nagel hing. Für einen Moment strampelte der Elende wie ein aus der Wanne gehobenes Kleinkind; dann stieß ihn der Bashrag gegen ein Netz voller Leichname. Mit einem riesigen Hammer schlug das Ungeheuer den Nagel in eine unsichtbare Fuge. Wieder hallten Schreie über die Mauern. Der Bashrag klapperte begeistert mit den Zähnen.
    Erstarrt beobachtete Achamian, wie er einen weiteren Nagel ans Becken des Mannes setzte. Das Jammern verwandelte sich in wahnsinniges Schreien. Dann fiel ein Schatten auf den Hexenmeister. »Schmerz«, flüsterte ihm eine tiefe Stimme ins Ohr.
    Achamian atmete heftig und unvermittelt ein und spürte die warme Luft von Caraskand, die so ganz fehl am Platze war.
    Einen Moment lang wankte seine Beschwörungsformel durch diesen Einbruch der wirklichen Welt, und er bemerkte flüchtig die von Sternen umgebene Bullenhöhe. Dann aber stand Mekeritrig über ihm und musterte Nautzera, der krebsrot und noch lebendig zwischen offenen Mündern und tastenden Gliedmaßen hing.
    »Schmerz und Erniedrigung«, fuhr der Nichtmensch mit fremd klingender Stimme fort. »Wer hätte gedacht, Seswatha, dass in diesen Worten Erlösung zu finden wäre?«
    Mekeritrig drückte die gefalteten Hände ins Kreuz und stand jetzt in der seltsam gekünstelten Haltung der Ishroi da, der Kriegerkaste der Nichtmenschen. Er trug ein Gewand aus schwarzem Damast unter seinem stählernen Brustpanzer, der aus kreisförmig ineinander greifenden Kranichen bestand. Stählerne Kettenschöße hingen ihm bis zu den Knien herab.
    »Erlösung…«, keuchte Nautzera mit Seswathas Stimme und richtete die geschwollenen Augen auf den Prinzen der Nichtmenschen. »Ist es schon so weit gekommen, Cet’ingira? Erinnert Ihr Euch an so wenig?«
    Ein kurzes Entsetzen trübte die vollkommenen Züge des Nichtmenschen. Seine Pupillen wurden schmal wie Federstriche. Nach Jahrtausenden der Hexerei trugen die Quya (die Magier der Nichtmenschen also) ein Mal, das weit intensiver war als das jedes Ordensmanns. Es war wie Indigo im Vergleich zu Wasser. Trotz ihrer übernatürlichen Schönheit und der porzellanartigen Blässe ihrer Haut wirkten sie verdorrt, verrußt und vertrocknet und glichen einer Hülle verkohlter Holzstücke, die zugleich schwelend und erloschen war. Manche von ihnen – hieß es – trugen ein so intensives Mal, dass sie sich nicht in der Nähe eines Chorums aufhalten konnten, ohne dass die Versalzung begann.
    »Erinnern?«, erwiderte Mekeritrig mit einer so schmerzlichen wie majestätischen
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