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Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie

Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie

Titel: Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie
Autoren: Thomas Raufeisen
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wurde als die, die sich im Westen entwickelte. Er hat dem Antifaschismus-Mythos geglaubt, der DDR-Propaganda mit ihren Schlagworten von Restauration und Wiedererstarken des Faschismus. Mitte der fünfziger Jahre fiel er Mitarbeitern des Ministeriums der Staatssicherheit auf, die ihn laut Stasi-Akte am 28.11.1955 kontaktierten. Er wurde dann „am 15.03.1956 durch die OV ‚W‘ (Objektverwaltung Wismut) Karl-Marx-Stadt auf der Basis der politisch-ideologischen Überzeugung geworben“.
    Während eines Sommer-Urlaubs Anfang der fünfziger Jahre auf der Insel Usedom hatte er beim Tanz Charlotte Krüger kennengelernt. Die damals 23-Jährige war beeindruckt von dem welterfahrenen und offenen Mann, der schon viel rumgekommen war. Sie wohnte in einem bürgerlichen Elternhaus in Seebad Ahlbeck, das mit den Kommunisten nichts zu tun haben wollte. Sie war Arzthelferin, später Schulsekretärin.
    Mein linientreuer Vater und meine Mutter fanden dennoch Gefallen aneinander. Immer wieder besuchte er sie und machte ihr den Hof. Am 16.10.1956 fand in Ahlbeck dann auch die Hochzeit statt. Nach der Heirat zogen meine Eltern in ein schäbiges Hotel nach Ronneburg bei Gera, da noch nicht fest stand, wo mein Vater letztlich eingesetzt werden würde. Für meine Mutter war das sicher nicht leicht: Aus einem schönen Haus in einem Seebad an der Ostsee in ein Zimmer im bergigen und vom Bergbau durchwühlten Ronneburg zu ziehen bedeute gewiss eine große Umstellung. Auch meine Großeltern haben ihr einziges Kind nur ungern mit dem der DDR wohlgesinnten jungen Mann ziehen lassen.
    Umso größer war die Überraschung bei allen Verwandten, als mein Vater von seiner Hochzeitsreise nach Kiel – dort wohnte eine Kusine meiner Mutter – nicht zurückkam. Der Verwandtschaft gegenüber begründete er diesen Schritt später mit den im Westen besseren Karrieremöglichkeiten und der besseren Bezahlung. Von Kiel aus war mein Vater nach Hamburg gefahren, hatte sich dort mit irgendwelchen Leuten getroffen und einen Kontakt zu einer Firma in Hannover, der „Prakla-Seismos“ hergestellt. Zurück in Kiel, sagte er zu meiner Mutter: „Wir bleiben!“ Meine Mutter hatte jedoch Angst, als Republikflüchtige ihre Eltern nicht mehr besuchen zu dürfen, und wollte lieber in die DDR zurück und auf dem Weg der Familienzusammenführung meinem Vater offiziell in den Westen folgen.
    Was niemand in der Familie und auch nicht seine Frau wusste: Er blieb im Auftrag des Ministeriums für Staatssicherheit im Westen. Er hatte den Auftrag, auf eine Abwerbung durch ein bekanntes Industrieunternehmen einzugehen, wenn es Lagerstätten von Bodenschätzen erkundete. Ziel war es wohl, in wirtschaftlich bedeutsamen Unternehmen sogenannte „Kundschafter“ zu platzieren, die Industrie- und Wirtschaftsgeheimnisse ausspionieren sollten.
    Schon etwa ein Jahr nach seiner Anwerbung durch die Stasi ist er also in den Westen gegangen. Mein Vater nahm den Auftrag an, ohne daran zu denken, was diese gefährliche Arbeit für sein weiteres Leben, das seiner frisch angetrauten Frau und der später entstehenden Familie bedeuten würde.
    Meine Mutter saß nun allein in Ronneburg und wusste zunächst nicht, was sie machen sollte. Wegen der Flucht meines Vaters bekam sie sehr viel Ärger mit der Staatssicherheit. Die Konspiration ging ja so weit, dass ihre Vernehmer nichts von der Tätigkeit meines Vaters für die Stasi wusste. Für sie war er ein Flüchtling und Verräter. Meine Mutter aber war ja selbst von der Flucht überrascht worden und befand sich in einer unangenehmen Lage. Was sollte aus ihr werden? Frisch verheiratet, der Mann verschwunden, in einer ihr völlig fremden Gegend. Zunächst kehrte sie zu ihren Eltern nach Ahlbeck zurück. Ihre Ausreiseanträge mit der Begründung der Familienzusammenführung wurden alle abgelehnt, da ihr Mann ja in den Westen geflüchtet war. Diese Anträge führten nur zu weiteren Verhören durch die Stasi. Die einzige Möglichkeit für sie blieb dann, etwa ein halbes Jahr nach dem Wegbleiben meines Vaters ebenfalls in den Westen zu flüchten, über die offene Grenze in Berlin. Nach 6 Monaten war das Paar wieder vereint.
    In Hannover mussten meine Eltern bei Null anfangen und sich eine Existenz aufbauen. Mein Vater arbeitete bei „Prakla-Seismos“ als geologischer und geophysikalischer Auswerter. Nebenbei bildete er sich durch Selbststudium in seiner Freizeit und Betriebspraktika weiter. 1965 wechselte er als Geophysiker in der Erdölexploration zur
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