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Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie

Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie

Titel: Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie
Autoren: Thomas Raufeisen
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selbständig zu werden. Immerhin hatte sie einen Vorteil: Ich wusste recht genau, wie es ihr gerade ging, weil ich es genauso erlebt hatte und ihre Gedanken und Gefühle gut nachvollziehen konnte. Es war ein langer Prozess, aber sie schaffte es. Nach einiger Zeit bezog sie eine eigene kleine Wohnung, nach und nach erweiterte sie ihren Freundeskreis, konnte die Vergangenheit Stück für Stück loslassen.
    Ein halbes Jahr nach der Rückkehr meiner Mutter fiel die Mauer. Am 9. November kam ich nachts um 3 von einer Studentenparty. Als ich nach Hause kam, schaltete ich noch einmal den Fernseher an. Was ich sah, konnte ich kaum glauben: Auf allen Kanälen liefen die gleichen Bilder aus Berlin. Das war das Ende des Regimes, sofort war mir das klar. Endlich, was für eine Genugtuung! Die, die uns in dieses Unglück gestürzt hatten, wurden von der Geschichte weggefegt. Aber war es wirklich so? In die Freude mischte sich auch ein bisschen Sorge. Wir waren schon lange wieder frei, weit weg von den Stasi-Leuten. Jetzt war alles offen . Kommen die zu uns? Hoffentlich nicht! Die Freude aber überwog. Nun endlich könnten uns unsere Verwandten und Freunde aus dem Osten besuchen kommen. Sofort dachte ich an Peter, meinen Freund in Ost-Berlin. Hin und wieder, aber leider immer seltener, hatte ich über Deckadressen Briefe mit ihm und seiner Schwester Grit ausgetauscht. Nun konnte ich ihnen doch direkt schreiben! Was konnte ihnen denn jetzt noch passieren? Nichts!
    Damals lebte ich in der City von Hannover in einer riesigen Altbauwohnung in einer 5er-Wohngemeinschaft. 180 m², 8 Zimmer. Unsere WG-Partys waren legendär. 150 Gäste waren normal. Für den 9. Dezember 1989 war die nächste Party geplant. Eine gute Gelegenheit, Freunde einzuladen. Peter aus Ost-Berlin! Hannover lag gerade so in Reichweite seines Trabi-Tanks. Damit er uns finden konnte, legte ich der Einladung noch eine Karte von Hannover bei, in der ich den Weg von der Autobahn bis zu uns markierte. So konnte eigentlich nichts schiefgehen. Aber würde er auch kommen?
    Er kam.
    Ich saß mit ein paar Freunden gerade in meinem Zimmer, hatte in dem Moment gar nicht mehr an Peter gedacht. Plötzlich stand dort jemand in der Zimmertür. Grüner Armeerucksack und Schlafsack, fast wie ein Spätaussiedler. „Peter? Bist du es?“ „Ja, ich glaube, ich bin hier richtig.“
    Wir hatten uns viel zu erzählen…

Was bleibt?
     
    Was bleibt nun in der Rückschau auf diese Erlebnisse? Zunächst einmal hat mir die DDR eine ganze Reihe wichtiger Jugendjahre gestohlen. In meiner Entwicklung erfolgte so alles sehr viel später. Schulisch, beruflich, sozial, familiär. Zwischen dem 16. und 22. Lebensjahr hatte ich ja kein normales Leben mehr gelebt. Mühselig musste ich Erfahrungen, die Jugendliche und junge Erwachsene in diesem Alter machen, nachholen, wobei mein Umfeld dafür kaum Verständnis aufbrachte. Wie erklärt man zum Beispiel mit 22 einer jungen Frau, dass dies das erste Mal sei…? Auch meine Fähigkeit, Vertrauen zu anderen Menschen zu fassen, war erheblich gestört.
    Unsere Familie wurde, beginnend mit unserer abenteuerlichen Fahrt in den Osten am 22. Januar 1979, Stück für Stück zerstört. Es begann mit dem schwersten Schlag, der Offenbarung meines Vaters, dass wir für seine Spionagetätigkeit mit lebenslänglich DDR würden büßen müssen. Die Familie hatte den ersten Knacks weg. Als mein Bruder als einziger nach elf Monaten nach Hannover zurückkehren durfte, waren wir auch räumlich nicht mehr zusammen, sollten es nie wieder sein. Als meine Eltern und ich in Haft kamen, war die Zerstörung der Familie endgültig. Von nun an musste ich alleine klarkommen. Der Tod meines Vaters, die späte Entlassung meiner Mutter taten ihr Übriges.
    Ursprünglich hätte ich mein Abitur 1981 abgelegt. So wurde es 1988. Mindestens sieben verlorene Jahre. Jahre, die man nicht mehr aufholen kann. Trotz allem habe ich dann an der Universität Hannover studiert. Nicht Architektur, wie ich es geplant hatte, sondern Vermessungswesen. Das zweite Staatsexamen machte ich erst im Jahr 2000. In den öffentlichen Dienst wurde ich aber nicht übernommen. Natürlich nagt in solchen Momenten immer der Gedanke an mir: Was wäre, wenn ich sieben Jahre früher dagewesen wäre, jünger wäre, selbstbewusster, mit dem Rückhalt einer funktionierenden Familie?
    Einige Fragen bleiben offen. Mit meinem Vater hatte ich mich nie richtig aussprechen können. Was hatte ihn bloß geritten, uns da so
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