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Der Täter / Psychothriller

Der Täter / Psychothriller

Titel: Der Täter / Psychothriller
Autoren: John Katzenbach
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soll, wo ich keine Menschenseele kenne, sagte sie sich. Das hier ist mein Zuhause.
    Sophie Millstein ging zum Wasserhahn, goss sich ein Glas ein und nahm einen großen Schluck. Es schmeckte brackig, metallisch. Sie verzog das Gesicht. »Miami Beach spezial«, murmelte sie. Sie wünschte sich, sie hätte daran gedacht, im Supermarkt Wasser in Flaschen zu kaufen. Sie schüttete einen Teil in den Ausguss zurück, nahm den Rest mit und füllte den Behälter im Vogelkäfig auf. Der Sittich zwitscherte ein, zwei Mal. Einen Augenblick lang wunderte sie sich, weshalb sie dem Vogel nie einen Namen gegeben hatte, so wie ihrem Kater. Sie überlegte, ob das irgendwie unfair war, bezweifelte es aber und kehrte in die Küche zurück, um ihr Glas abzuspülen und zum Trocknen auf die Ablage zu stellen. Oberhalb des Spülsteins befand sich ein kleines Fenster, und sie blickte in die Nacht.
    Sie redete sich gut zu, dass sie mit jedem Gegenstand, mit jedem Schatten, den sie dort sehen konnte, vertraut sei; alles war genauso wie die Nächte davor, und alles war genau dort, wo es hingehörte, und das seit zehn Jahren. Dennoch suchte sie wie ein Wachsoldat jeden dunklen Winkel im Garten ab, um zu sehen, ob sich irgendwo etwas bewegte.
    Sie drehte den Wasserhahn zu und horchte.
    Es gab ein paar ferne Verkehrsgeräusche. Oben schlurfte Finkel durch die Wohnung. Ein Fernseher lief zu laut; das waren vermutlich die Kadoshs, dachte sie, sie sind zu eigensinnig, um ihre Hörgeräte einzuschalten.
    Sie schaute weiter aus dem Fenster. Ihre Augen glitten über jeden Lichtstrahl, jeden dunklen Fleck. Sie staunte, wie viele Stellen es gab, an denen sich jemand verstecken konnte, ohne gesehen zu werden: die Ecke, an der der Orangenbaum neben dem alten Maschendrahtzaun stand; die Schatten, welche die Mülltonnen warfen.
    Nein, sagte sie sich, es ist alles so wie immer.
    Nichts ist anders als sonst.
    Nichts fällt aus dem gewohnten Rahmen.
    Sie holte tief Luft und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Fernsehen, sagte sie sich. Sie schaltete ihren Apparat ein und sank in einen Sessel. Es lief eine Sitcom; ein paar Minuten lang versuchte sie, den Witzen zu folgen, zwang sich, in das Gelächter aus der Konserve einzustimmen. Sie ließ den Kopf in die Hände sinken, und während die Sendung weiterlief, zitterte sie, als ob sie fröre, doch sie wusste, das war nicht der Grund.
    Er ist tot, hämmerte sie sich ein. Er ist nicht hier.
    Einen Moment lang kamen ihr sogar Zweifel, ob er überhaupt je existiert hatte: Wer war das, den ich damals gesehen habe? Es konnte irgendein Fremder gewesen sein, besonders mit diesem Hut und dem dunklen Mantel. Und nachdem er gebrüllt hatte, haben sie damals die Tür so schnell zugemacht, ich konnte ihn ja kaum sehen.
    Doch sie wusste, das stimmte nicht. Er war es.
    Sie spürte, wie in ihr die blanke Wut hochstieg. Von jeher war er es. Tag für Tag, Stunde um Stunde. Er war selbst dann da gewesen, wenn sie sich relativ sicher gefühlt hatten – ein Trugschluss, wie sie jetzt wusste. Er hatte sich wie ein besonders geduldiger, kaltblütiger Jäger angeschlichen und auf den rechten Moment gewartet. Dann hatte er ihnen zuerst ihr Geld genommen, dann ihre Freiheit und damit ihr Leben.
    Sophie Millstein fühlte, wie in ihr der Hass aufstieg.
    »Ich hätte ihn damals töten sollen«, stellte sie laut fest, »hätte ich doch nur gewusst …«
    Sie brachte den Satz nicht zu Ende, denn sie erkannte, es hatte damals keine Chance gegeben. Sie sagte sich: Du warst doch noch ein Kind – was wusstest du denn vom Töten?
    Die bittere Antwort lag auf der Hand: damals noch nicht viel. Aber du hast es früh genug erfahren, nicht wahr?
    Im Fernseher lief ein Werbespot für Bier, und eine Weile lang betrachtete sie die muskulösen jungen Männer und attraktiven jungen Frauen, die sich um einen Swimmingpool tummelten. So sieht in Wahrheit niemand aus, dachte sie. Als sie im selben Alter wie diese Models gewesen war, wurde ihr bewusst, wog sie unter siebzig Pfund und sah eher tot als lebendig aus.
    Doch ich bin nicht gestorben, dachte sie trotzig.
    Er muss geglaubt haben, wir würden alle sterben, aber ich habe überlebt.
    Wieder stützte sie den Kopf in die Hände.
    Wieso ist
er
eigentlich nicht gestorben?, fragte sie sich.
    Wie hatte er den Krieg überleben können?
    Wer hätte denn ihn gerettet? Jedenfalls nicht die Deutschen, für die er gearbeitet hat. Als er nicht mehr nützlich war, lag es für sie nahe, ihn wie alle anderen nach Auschwitz
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