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Der stille Schrei

Der stille Schrei

Titel: Der stille Schrei
Autoren: Leon Specht
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Vielleicht will er, dass man selbst zu Erkenntnissen kommt?“, fragte ich mich selbst.
    Das schien Lisa gar nicht zu gefallen. „Nein, er gibt doch ganz klare Anweisungen.“
    Jetzt war es an mir, verwirrt oder enttäuscht zu sein. Reagierte jeder Mensch anders auf ihn? Oder behandelte er jeden anders? Und doch: „Ja, stimmt. Er hat mir klare Anweisungen gegeben.“
    Sie wurde neugierig. „Welche denn?“
    „Ich soll Sport treiben, Jogging lernen.“
    „Was soll das denn?“ Lisa verstand die Welt nicht mehr.
    „Na ja, ich habe ihm gesagt, dass ich abnehmen will.“
    „Und dein eigentliches Thema, Karl?“
    Nun war es an mir zu schweigen. Schließlich schauten wir uns beide an. Verwundert. Und mussten plötzlich laut loslachen.
    „Hey, komm, wir machen was Verrücktes.“
    Das überforderte mich. Lisa, die kunterbunte Knalltüte. Lang, lang war’s her, dass ich das mit ihr erlebt hatte. Jetzt konnte ich nicht darauf eingehen.
    „Ich weiß nicht.“ Nein, sag nicht immer diesen Satz, schrie mittlerweile die innere Stimme, die sehr lange und sehr geduldig zugehört hatte. Merkst du nicht, wie wenig du weißt?
    Ich erstarrte. Diese Stimme hatte sehr Recht. Ich wusste es wirklich nicht. Aber ich wusste, dass ich jetzt gehen musste.
    Merkwürdig. Lisa, meine dickste Freundin. Sie hatte immer schon zu mir gestanden. Im Kindergarten. In der Schule. All die verrückten Sachen, die wir gemacht hatten. Zu denen sie mich angestiftet hatte. Zuletzt bei einem dramatischen Tiefpunkt meiner Ehe mit Karl. Und doch …
    „Lisa, es tut mir leid. Ich bin momentan nicht gut drauf.“
    Sie nickte nur. Ein Hauch von Verständnis lag in ihrem Blick, aber auch Enttäuschung. Ich konnte nichts dagegen tun.

AMNESIEVERLUST
    Am nächsten Morgen erwachte ich mit einem ganz   sonderbaren Gefühl. Warum ging es mir so gut? Das stimmte doch gar nicht. War ich schizoid? Völlig verrückt geworden?
    Beschwingten Schrittes ging ich ins Badezimmer. Schön, dass Karl auf Geschäftsreise war. Nun konnte ich die Stille des Hauses genießen. Es war auch mein Zuhause.
    Währenddessen lauschte ich den beiden inneren Stimmen, die verzweifelt miteinander stritten. Sagte die eine: Genieße doch den temporären Fortschritt, lasse ihn zu. Sprach die andere: Sei doch nicht blöd, du machst dir doch nur etwas vor.
    Beide hatten Recht. Wie in dem blöden Witz vom Richter. Sitzt ein Richter zu Gericht, sagt zu der einen Partei: Tragen sie vor. Die Partei macht es so überzeugend, dass er spricht: Ja, sie haben Recht. Sein Gerichtsschreiber flüstert ihm zu: Sie müssen doch erst die andere Partei anhören. Also spricht er zu der anderen Partei: Tragen sie vor. Die andere Partei macht es ebenfalls so überzeugend, dass er spricht: Ja, sie haben Recht. Da flüstert der Gerichtsschreiber ihm zu: Es kann doch nur eine Partei Recht haben. Da sagt der Richter ganz laut: Ja, Sie haben Recht!
    Auf diesen inneren Dialog hörend, ging ich in die Dusche und spülte wieder einen Teil meiner alten Persönlichkeit ab. Heute nahm ich eine Speick-Seife, die ich bisher immer in der Gästetoilette ausgelegt hatte. Ein toller Duft! Natürlich kam mir Tim in den Sinn. Tim. Ich seifte mich ein und spürte meine Hände über meine Haut gleiten. Wie würden sich seine anfühlen?
    Abtrocknen, eincremen, anziehen und die Gedanken an Tim beiseite schieben. Sportsachen holen. Eine weitere Einheit mit Tim stand bevor.
    Ein letzter Blick in den Spiegel: gut. In den Roadster geschmissen, vorsichtig aus der Einfahrt herausmanövriert, dann ein wenig zu viel Gas gegeben, zum Glück nichts passiert. Wie immer: der Dialog der beiden inneren Stimmen. Die eine: ängstlich. Die andere: mutig. Wie würde ich mich letztendlich entscheiden?
    Nach dem Trainingsprogramm, das richtig gut getan hatte, saßen wir in seinem Oval Office, wie ich es für mich insgeheim getauft hatte. Nein, die Assoziation hatte nichts mit Bill Clinton und Monica zu tun, sondern damit, dass sein Grundriss ein Oval war. Ich strahlte. Waren es schon die Endorphine, von denen er gesprochen hatte und die mich jetzt nach dem kurzen Lauf mit ihren Glückshormonen überschwemmten? Ging mein Leben nun endlich aufwärts? Hatte ich meinen Weg gefunden?
    Tim war heute total anders. Während er sonst immer so überschwänglich aufgesetzt wirkte und alle Menschen dieser Erde gleichzeitig umarmen konnte, war er heute schon während meiner Einheit äußerst schonend, zurückhaltend und einfühlsam gewesen. Ich wusste nicht, wie ich
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