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Der Spieler (German Edition)

Der Spieler (German Edition)

Titel: Der Spieler (German Edition)
Autoren: Paolo Pacigalupi
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weiter hinabkletterte. Als er wieder nach oben blickte, wollte der Mann gerade aus dem Fenster steigen, wurde jedoch von der Frau zurückgehalten.
    Wang Jun machte sich an den Abstieg. Glitt tiefer in den Nebel hinein, um sich in die glitschige Sicherheit der weit unter ihm liegenden Straße zu retten. An Bauarbeitern und Biotekten vorbei, die Nachtschicht hatten. Sie alle hingen gesichert an der Seite des riesigen Gebäudes  – außer ihm traute sich niemand, die Haut der Kreatur ohne schützendes Gurtwerk zu erklimmen. Wenngleich sie ihn mit ernstem Blick dabei beobachteten, wie er hinabstieg, hielt ihn doch niemand auf. Was ging es sie auch an, ob er abrutschen und auf das weit entfernte Pflaster stürzen würde? Also kletterte er an ihnen vorbei und immer weiter nach unten.
    Als er das nächste Mal suchend nach oben zu dem einsamen Fenster schaute, aus dem er geflohen war, konnte er es nicht mehr ausmachen. Es war im dichten kühlen Nebel verschwunden. Vermutlich würden der Mann und die Frau ihm nicht folgen. Irgendwo in den verregneten Straßen von Chengdu warteten wichtigere Aufgaben auf sie. Er lächelte in sich hinein. Sie würden zusammenpacken und nach Hause in ihr fremdes Land fahren, während er in Chengdu zurückblieb. Die Bettler blieben immer zurück.
    Vor Anstrengung zitterten ihm allmählich die Arme. Schon jetzt hatte der Abstieg länger gedauert, als er für möglich gehalten hatte. Auf der Suche nach Halt gruben sich seine Finger in die nachgiebige Biomasse, die Huojianzhus Haut bildete. Ihm taten die Fingergelenke weh, und die Arme bibberten inzwischen unkontrolliert. So hoch oben war es kalt, auch wenn kein Wind ging. Der klamme Nebel und die feuchte, weiche Wand, an der er sich festklammerte, ließen seine Finger langsam taub werden, sodass er keinen sicheren Halt mehr fand. Deshalb passte er jetzt jedes Mal besonders gut auf, wohin er die Hand setzte.
    Wang Jun fragte sich zum ersten Mal, wie lange es wohl dauern würde, bis er abstürzte. Der Abstieg wollte nicht enden, und die anhaltende Kälte kroch ihm in die Knochen. Als sich der Nebel teilte, konnte er die Lichter von Chengdu erkennen, die sich unter ihm ausbreiteten. Als ihm klar wurde, wie hoch über der Stadt er wirklich war, verließ ihn der Mut.
    Trotzdem suchte er weiterhin nach Halt. Doch als er sich gegen die weiche Masse stemmte, gab sie unerwartet nach, und plötzlich baumelte er nur noch an einer einzigen kraftlosen Hand über dem wild kreisenden Lichtermeer. Verzweifelt tastete er die Wand ab. Trieb die Füße tief in die nachgiebige Oberfläche. Sah, wo seine abgerutschte Hand ein Stück Wand herausgerissen hatte. Dort klaffte ein tiefer Riss, aus dem das milchige Blut des Biobauwerks sickerte. Mit pochendem Herzen starrte er Huojianzhus schwärende Wunde an und stellte sich dabei vor, wie er abrutschte, hinabfiel, auf den Gehsteig klatschte – und sein dickflüssiges Blut schwerfällig den Rinnstein entlangfloss. Seine zittrigen Arme drohten nachzugeben, und er musste gegen seine aufsteigende Panik ankämpfen. Er zwang seine Gliedmaßen dazu, sich wieder zu bewegen und hinabzusteigen, weiter auf der Suche nach einem Platz, wo er auf der unwirtlichen Haut des Gebäudes eine Pause einlegen und darauf hoffen konnte, vielleicht doch zu überleben.
    Er sprach sich selbst Mut zu. Er würde das schaffen. Und nicht abstürzen und auf der Straße verrecken. Nicht er. Nicht Xiao Wang. Nein. Xiao Wang war er gar nicht. Auch nicht mehr Kleiner Wang. Sondern Wang Jun − Soldat Wang. Krumm und mickrig, wie er war, würde Soldat Wang trotzdem überleben. Er lächelte in sich hinein. Wang Jun würde überleben. Vorsichtig suchte er nach dem nächsten Halt und kletterte mit zitternden Armen und tauben Fingern immer weiter hinab, und als er fast nicht mehr konnte, entdeckte er ein Loch in Huojianzhus Haut, in das er sich schwang – hinein in die Sicherheit eines der Kanäle dieses lebenden Bauwerks.
    Dort hatte er endlich festen Boden unter den Füßen, und so konnte er sich umdrehen und die unter ihm daliegenden Lichter von Chengdu betrachten. In wenigen Jahren würde ganz Chengdu von diesem wachsenden Kern überwuchert sein. Wohin mochte ein Bettler dann noch fliehen, fragte er sich? Welche Straßen würden ihm und seinesgleichen noch offenstehen? Er griff in die Tasche und strich über die scharfen Kanten des Datenwürfels. Zog ihn hervor und bestaunte erneut die makellose blaue Oberfläche. Die ausgewogene geometrische Form. So
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