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Der Sommersohn: Roman

Der Sommersohn: Roman

Titel: Der Sommersohn: Roman
Autoren: Craig Lancaster
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erstickte gerade an meinem und hatte Sorge, meine Kehle würde vielleicht nicht weit genug sein, um ihn erneut zu schlucken.
    Als ich im Terminal stand, schweiften meine Gedanken unweigerlich wieder ab, zu den sonnengebleichten Bildern, die mir mit so schöner Regelmäßigkeit in den Sinn kamen, dass sie ein Teil von mir geworden waren – ein längst verinnerlichtes Unbehagen. Und wenn es sich mit der Erinnerung warmlief, war ich nicht mehr ein neununddreißig Jahre alter Familienvater mit zwei Kindern und Geschäftsmann, sondern ein elfjähriger Junge in einer fremden Kleinstadt. Während mir jede winzige Kleinigkeit durch den Kopf ging, war ich jetzt wie damals schlecht gerüstet, es richtig zu machen. Ich wusste genau, was ich hätte sagen und wie ich hätte reagieren sollen, und doch spulte sich in meinem Kopf wie auf einem Endlosband immer, immer und immer wieder nur dasselbe Lied ab.
    Langsam rückte ich mit der Sicherheitsschlange auf das Gate zu, während ich die Worte aus den letzten paar Gesprächen mit meiner Frau zerpflückte und argwöhnisch dem entgegensah, wasmich bei Dad erwartete, und ich spürte, wie ich mich gehen ließ. Ich wusste, dass ich erschöpft sein würde, wenn ich wieder einmal jeden bitteren Fetzen durchgekaut hätte, aber die Grübeleien kamen mir gerade recht, und sei es nur als Ablenkung von dem Chaos, das ich zu Hause zurückgelassen hatte.
    Das kam nicht überraschend. Dad beschäftigte mich seit Tagen, und diese Reise in meine Vergangenheit bedeutete, zu der achtundzwanzig Jahre früheren Version von ihm zurückzukehren, noch einmal zu schlucken, wie er mich kaputtmachte – uns alle kaputtmachte – und uns Jahr für Jahr die Scherben aufsammeln ließ. Erst hinterher sehe ich immer alles kommen, und dann ist es zu spät, um es zu vermeiden.
    Als wir auf der Rollbahn warteten, zog ich eins der Notizbücher aus meinem Handgepäck. Am Abend vorher, als ich Cindy endlich gebeichtet hatte, wie elend ich mich fühlte und dass ich Schiss hatte vor dem, was mich erwartete, gab sie mir eine Aufgabe.
    »Erzähl mir, was passiert ist«, sagte sie.
    »Mit wem?«
    »Mit dir und deinem Vater. Sag mir, was passiert ist.«
    »Gott, Cindy, es ist spät.«
    »Nicht jetzt. Während du weg bist. Schreib es auf. Lass es raus.«
    Ich antwortete ausweichend, ein Nein hätte sie nicht akzeptiert. Sie stopfte mir die Tasche voll mit Notizbüchern und Stiften.
    »Versuchs doch mal«, sagte sie.
    Ich schraubte einen Stift auf und setzte ihn auf das Papier. Da hielt ich ihn eine Weile, unschlüssig, ob ich weitermachen sollte.
    »SEATAC, WASHINGTON«, schrieb ich.
    Ich setzte den Stift wieder ab und schloss die Augen.
    Ich spürte, wie der Flieger vom Flugsteig wegruckelte, aber ich erinnerte mich nicht, dass die Räder vom Boden abhoben und auch nicht an die große Schleife über der South Bay, bevor wir nach Osten flogen. Das erste Mal hatte ich diese Reise in der Realität mit weit offenen Augen gemacht, und mit den Jahren fand ich,dass die endlosen Reisen in meine Erinnerungen mit fest geschlossenen Augen besser funktionierten. Ich wusste, was kam. Ich hatte die Geschichte schon mal gesehen. Zum Teil war sie tröstlich für mich, besonders die Erinnerungen an jene Momente, bevor ich vor all den Jahren aus SeaTac wegzog. Ich sah das liebe Gesicht meiner Mutter, die sich lächelnd von mir verabschiedete. Sie war bemüht, mich ihre Tränen nicht sehen zu lassen.
    In meinem Kopf kam sie immer wieder zu mir zurück, die strahlend schöne Mutter, die in meinen Träumen wohnt.
    Das ist mein liebster Teil, aber er ist nie von Dauer.
    Das Glück vergeht.
    Verluste verweilen in den Eingeweiden, resistent gegen die besten Anstrengungen, sie zu verscheuchen.
    Irgendwo zwischen Bewusstsein und Schlaf, eingelullt von den Maschinen des Jets und dem Sturzbach der Erinnerung, kehrte ich an den Ort zurück, dem ich nie entfliehen konnte, und machte noch eine unruhige Reise durch das, was meine Augen aufnahmen und mein Kopf nicht loslassen wollte.

SEATAC, WASHINGTON | 14. JUNI 1979
    »Mitch, halt still.« Meine Mutter ließ sich anmerken, dass sie von mir leicht genervt war. Sie hatte mir einiges zu sagen, bevor ich ins Flugzeug nach Salt Lake City entwischte.
    »Wenn du aus dem Flugzeug steigst, sollte dich jemand zum nächsten Gate bringen. Falls du keinen siehst, dann bleib einfach stehen. Okay?«
    »Ja.«
    Ich kannte den Ablauf. Mom setzte mich schon seit sechs, sieben Jahren ins Flugzeug und verließ sich
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