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Der Sommer der Schmetterlinge

Der Sommer der Schmetterlinge

Titel: Der Sommer der Schmetterlinge
Autoren: Adriana Lisboa
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halbe Heilige verehrt hatte. Wenn man denn halb heilig sein kann.
    Der Schmerz und die Freude. Das Mysterium. Maria Inês’ Kopf war langgestreckt wie eine Zigarre, aber ihre Mutter erschrak nicht. Auch Clarice war mit einigen Verformungen zur Welt gekommen, die die ersten Lebensmonate begradigt hatten. Bei Maria Inês würde es nicht anders sein.
    Otacília und Afonso Olímpio waren nicht mehr ganz jung, sie waren sogar schon über das Alter hinaus, das man zu jener Zeit für normal hielt, um Kinder zu bekommen, aber sie hatten eben spät geheiratet. Als alle bereits glaubten, nach der Verheiratung ihrer vier Brüder und zwei Schwestern werde Otacília als ledige Tante übrigbleiben, lief ihr Afonso Olímpio über den Weg und säte unter ihren schlafenden Wünschen die Idee der Erlösung.
    Da war Otacília achtundzwanzig, ein Alter, in dem ihre Mutter schon fünf Kinder zur Welt gebracht hatte. In heimlicher Vorfreude ließ sie sich das Brautkleid anmessen, suchte die Blumen für den Strauß aus und probierte die satingefütterten (von einer reichen Tante nicht in Rio de Janeiro, sondern direkt in Paris gekauften) Schuhe an. Mit nur sich selbst eingestandenem Schauder gedachte Otacília verächtlich der düsteren Aussicht, als Jungfrau sterben zu müssen. Das werde sie nicht tun, murmelte sie, leise, damit niemand es hörte. Und mit welcher Lust, mit welchem Vergnügen ließ sie die Truhe für die Aussteuer kaufen und füllte sie mit Einfällen, von denen manche übertrieben, manche beschränkt und nur wenige wirklich passend waren. Otacília und Afonso Olímpio. Sie einWirbelwind, er ruhig und unaufdringlich wie ein aromatischer Rauchgeruch, der sich im Nachmittag verliert.
    Der Schwager machte das Foto, das der Vater segnete und der Bruder rahmte: Otacília mit Schleier und Kranz, in Satin und Spitzen, am glücklichsten und unwirklichsten Tag ihres Lebens – festgehalten für die Ewigkeit. Ursprünglich wollte sie es an herausgehobener Stelle im Wohnzimmer des von ihrem Ehemann errichteten Hauses aufhängen, im Herzen einer kleinen, nicht weit von ihrem Elternhaus entfernten Fazenda bei Jabuticabais. Einer Stadt, die es nicht einmal auf der Karte gab. Doch das Foto wurde neben den Kamin gestellt, und dort blieb es.
    Für sich allein war jedes anatomische Detail an Otacília schön, im Ganzen aber löste sie dieses Versprechen nicht ein. Die Natur hatte ihr ein Paar aquamarinblaue Augen, zarte Lippen, feine dunkle Haare, eine schmale Taille und feste, zupackende Hände geschenkt und sie miteinander kombiniert, ohne dass ein befriedigendes Ergebnis zustande gekommen wäre. Und wenn die Schwestern Otacília auch stets um ihre blauen Augen beneideten, konnten sie ihr dennoch verzeihen, da sie selbst sich zwar nicht durch besonders gelungene Details auszeichneten, in der Summe jedoch zwei unbestreitbar hübsche Mädchen waren.
    Afonso Olímpio seinerseits provozierte manchen verdeckten Kommentar:
    Habt ihr bemerkt, dass er ein bisschen …
    Meint ihr nicht auch, er ist ein halber …
    Ich weiß nicht, vielleicht irre ich mich ja, aber er kommt mir vor wie ein …
    Ein halber Mulatte .
    Seht euch die Haare an.
    Otacília mischte sich ein und sagte: Von wegen Mulatte! Afonso Olímpio ist weiß, er hat nur etwas dunklere Haut von der Sonne.
    An einem Morgen nach dem Regen vernahm man in der kleinen Kirche von Jabuticabais Otacílias und Afonso Olímpios Gelübde. In den bescheidenen Straßen standen Wasserlachen, die den unentschiedenen Himmel spiegelten. Still wartete die nahe Fazenda auf sie. Still, jungfräulich, gänzlich unschuldig.
    Später, viel später, lernte Otacília die Bitterkeit der Stille, ihres eigenen Schweigens kennen, in jenen unbeschwerten Jahren aber war sie noch heiter und offen.
    Natürlich wurde die Ehe zu keinem Zeitpunkt das, was Otacília sich vorgestellt hatte. Doch diese Angelegenheit war viel mehr als bloß verboten, darüber konnte sie nicht einmal mit ihren Schwestern reden, den zwei Schönheiten mit Augen, die nicht blau wie Aquamarine waren. Sie überlegte, ob ihre Schwestern wohl Lust verspürten, wenn sie sich nachts, nachdem sie den Rosenkranz gebetet und das Haar gelöst hatten, zu ihren Männern zwischen die Laken legten. Sie fragte sich, ob ihre Mutter. Ob die Hausmädchen. Ob ihre Cousinen. Ob all die anderen Frauen auf der Welt. Ob die Huren (strengstens verboten). Und von der vielen Grübelei blieb ihr nur der stechendeSchmerz der Verzweiflung, denn am Ende, Mutmaßungen hin
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