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Der Sohn des Sehers 03 - Renegat

Titel: Der Sohn des Sehers 03 - Renegat
Autoren: Torsten Fink
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erreichte. Unversehens war er angekommen. Zwei Dutzend flache Stufen führten hinauf, und oben im Schatten saß eine dunkel gekleidete Gestalt. Merege? Er wollte rufen, doch die Stimme versagte ihm. Er sprang schnell die breiten Stufen hinauf, blieb dann jedoch stehen. Das war nicht Merege. Eine schlanke Gestalt saß dort, in dunkelgrauem Gewand und mit schwarzem Haar. Die Gestalt erhob sich. Es war ein Mann, sicher einen ganzen Kopf größer als Awin, sein Gesicht war fahl weiß wie der Himmel und beherrscht von zwei schwarz schimmernden Augen, deren Blick schwer zu ertragen war, und es schien, als sei diese Gestalt von Schatten eingehüllt, die wie Rabenflügel aus ihren Schultern wuchsen.
    »Ich grüße dich, Awin«, sagte der Fremde und zeigte seine nadelspitzen Zähne.
    Awin nickte stumm.

    »Wir haben lange auf dich gewartet. Aber endlich bist du hier.«
    »Gewartet?«, fragte Awin heiser.
    »Wir haben dich gerufen. Hast du uns nicht gehört? Ich habe dich gesehen, in der schwarzen Kammer deines Geistes. Aber du bist unseren Rufen nicht gefolgt.«
    »Aber wer bist du?«, stieß Awin hervor. Er fror - dieses Wesen schien Kälte auszuströmen. Jähe Zweifel überfielen ihn. Würde diese Schrecken erregende Gestalt ihm helfen können - und wollen? War dies überhaupt das Totenreich der Kariwa?
    Die Gestalt starrte ihn unverwandt an. Sie schien erst über die richtige Antwort nachsinnen zu müssen. »Ich bin Uqib, der Seelenverweser dieses Landes, und treuer Diener Uos. Auf dieser Schwelle sitze ich und befrage die Toten, entscheide, ob sie eintreten dürfen, oder nicht.«
    Awin war erschöpft und verwirrt. Er versuchte zu verstehen, was die Gestalt meinte. »Aber - hier ist doch niemand?«, sprach er das Offensichtliche aus.
    »Du bist hier, Awin Sehersohn«, erklärte Uqib, »doch hast du Recht. Es sind schon lange keine Seelen mehr durch dieses Tor gewandert. Hierher kamen einst die Seelen der Nurbai. Doch ihre Städte wurden zerstört und ihr Volk in alle Winde zerstreut, wie es so oft in eurer Welt geschieht. So gerieten ihr Glaube und ihre Ahnen in Vergessenheit. Niemand gedachte noch der Toten oder brachte ihnen Opfer, und so verblassten ihre Seelen und gingen auf im großen Ahngeist, aus dem die neuen Seelen geschöpft werden. Dies ist ein leeres Land. Es stirbt. Und nun kommst du und bringst das Ende.«
    »Ich?«, fragte Awin erschrocken.
    »Sieh dich um«, forderte der Seelenverweser.
    Als Awin der Aufforderung nachkam, sah er, dass die Staubwolke bedrohlich nahe gerückt war.

    »Das Land ist alt, längst hat Uo es aufgegeben, und seinen treuen Diener hatte er schon fast vergessen. Deinetwegen hat er sich meiner erinnert. Nun zerbricht mein Reich unter den Schritten des Wanderers, der hier und doch nicht hier ist. Durch dich, Seher.«
    Awin hörte keine Spur von Trauer in der dunklen Stimme. »Wie lange wartest du denn schon auf mich?«, entfuhr es ihm.
    Uqib lachte heiser. »Zeit spielt hier keine Rolle mehr.«
    Awin war anderer Ansicht. Die Staubwolke und mit ihr der gewaltige Trichter, den sie verschleierte, würde das Tor bald erreichen. Er hörte schon das beunruhigende Krachen des brechenden Bodens. Er durfte keine Zeit mehr verlieren. »Du weißt, weshalb ich hier bin? So kannst du mir helfen, ehrwürdiger Uqib?«, fragte er schnell, als Uqib nach der ersten Frage nickte.
    Die Gestalt schien die flügelartigen Schatten jetzt enger um sich zu ziehen und nachzudenken, bevor sie antwortete. »Ja, ich kann dir helfen. Doch steht noch nicht fest, dass ich es tue.«
    »Was heißt das?«, drängte Awin.
    »Du musst mir etwas geben, bevor ich dir den Weg zeigen darf.«
    »Etwas geben?«
    »Du bist hier, um etwas mitzunehmen. Also musst du dafür etwas geben. So will es der Totengott, Seher.«
    Awin durchsuchte mit fahrigen Händen die Taschen seines Gewandes, doch vergebens. »Ich habe nichts!«, rief er. Das Brausen in der Wüste war so laut geworden, dass er die Stimme heben musste.
    Uqibs schwarze Augen starrten ihn durchdringend an. »Du hast eine Gabe«, sagte er schließlich.
    Awin erbleichte. »Du willst mir meine Gabe nehmen?«, fragte er.

    »Nutzt sie dir denn noch?«
    »Sie hat mich hierhergeführt!«
    »Weil Uo es wollte«, sagte Uqib. »Er hat seine Hand auf deine Gabe gelegt, denn er hat bemerkt, dass du ihn gesehen hast. Dies kann nicht geduldet werden.«
    »Aber wie soll ich Merege finden, wenn …«
    Wieder unterbrach ihn der Seelenverweser. »Ich werde dir den Weg weisen, Wanderer, denn
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