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Der Sohn des Sehers 03 - Renegat

Titel: Der Sohn des Sehers 03 - Renegat
Autoren: Torsten Fink
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tief durch und sprach ein Gebet. Es konnte nicht schaden, Tengwil, die Schicksalsweberin, um ihren Schutz und ihren Beistand anzuflehen, auch wenn es dieses Mal nicht ihr Reich der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft war, das er betreten wollte.
    Awin blickte zum Himmel. Die Sonne musste inzwischen untergegangen sein, und es sah wirklich nach Regen aus. Er füllte Wasser aus dem bereitstehenden Krug in die Schale, nahm das Messer, zog es durch seine Handfläche, bis etwas Blut hervorquoll, und ließ es in die Schale tropfen. Dann legte er sich die Kräuter, die Mahuk ihm gegeben hatte, auf die Zunge. Sie schmeckten bitter. Er setzte die Schale an und spülte sie hinunter. Anschließend lauschte er auf seine Atmung, beruhigte sie, atmete gleichmäßig ein und aus. Er sandte stumme Gebete an Tengwil und an Mareket, damit sie ihm halfen, dann räusperte er sich und sprach das aus, was gesagt werden musste: »Uo Jega«, begann er, und seine Stimme versagte. Es waren die Worte, die er von Merege gehört hatte, wenn sie den Totengott
um Beistand anrief. Es fiel ihm schwerer als gedacht, den Namen dieses Gottes auszusprechen. Er unterdrückte die aufsteigende Furcht, räusperte sich erneut und flüsterte: »Uo Jega. Steh mir bei und geleite mich auf deinen Pfaden. Erlaube mir, dein Reich zu betreten. Erlaube mir, die verlorene Seele zu finden.«
    Es gab kein Vorbild für das, was er vorhatte - noch kein Seher hatte Uo um Beistand für eine Reise des Geistes ersucht. Awin richtete seine Gedanken auf das dunkle Land des Todes. Er hatte sich lange den Kopf über die richtigen Worte zerbrochen, aber jetzt sagte er, was ihm in den Sinn kam. Er hatte ein großes Anliegen, und er konnte den Gott nur bitten, ihm zu helfen. Was konnten schöne Worte oder Schmeicheleien dazu beitragen? Er sprach zum Gott des Todes, da wollte er aufrichtig sein, denn er fühlte, dass er nur so zum Ziel gelangen konnte. Die Hakul glaubten daran, dass ihre Helden das nächste Leben auf den immergrünen Weiden des Gottes Mareket verbringen würden, und nur die Verstoßenen, die Verbrecher, die Ehrlosen, stiegen hinab in das Reich des Todes, das sonst allen Nicht-Hakul vorbehalten war. Ud-Sror nannten die Akkesch die Stadt, über die der Totengott herrschte. Awin hoffte inständig, dass er nicht in diese Stadt gehen musste, um Merege zu finden. Yeku hatte von dem großen, finsteren Wald erzählt, in den die Ussar nach ihrem Tod gingen, und er hatte ihn vor der Seelenschlange gewarnt, die durch das dichte Blattwerk kroch und die Seelen jener Ahnen verschlang, die von ihren Nachkommen vergessen worden waren. Yeku musste es wissen, denn er war dort gewesen, aber von den Ahnen seiner bösen Taten wegen zurückgeschickt worden.
    Awin atmete tief und gleichmäßig, richtete seine Gedanken auf Merege und auf Uo. Er konnte sein Herz pochen hören. Er bat den Totengott um einen Gefallen und konnte nur hoffen,
dass der große Uo das nicht als anmaßend auffasste. Awin wiederholte die Worte wieder und wieder im Geiste. Aber er wusste, dass er sie laut aussprechen musste, um seinen Willen, seine Ernsthaftigkeit unter Beweis zu stellen. Er fühlte die Beklemmung wachsen. »Uo Jega! Großer Gott des Todes, ich bitte um Einlass in dein Reich, lass mich die Seele finden, die ich suche. Und lasse uns zurückkehren aus deinem Land ohne Wiederkehr.«
    Ein dumpfes Knacken sprang durch das Pflaster, und Awin fühlte es plötzlich absinken. Der Boden schien unter ihm nachzugeben. Awin schlug die Augen auf. Er lag in einer Grube. Grauer Sand rann über die Ränder herein. Die weißen Steinplatten des Platzes waren fort, die Kerze ebenso. Wieso lag er? Wann hatte er sich ausgestreckt? Awin blinzelte verwirrt. Der Morgen schien angebrochen zu sein. Es knackte wieder, fast wie brechendes Eis. Awin setzte sich rasch auf. Der Sand strömte schneller in die Grube und begann, seine Beine zu bedecken. Er begriff endlich, dass er sein Ziel erreicht hatte. Sein Geist war auf die Reise gegangen. Doch wo war er? Der Boden unter ihm sackte noch einmal ein Stück ab. Hastig kletterte Awin über den rutschenden Sand aus der Grube, robbte einige Schritte fort, bevor er anhielt, aufstand und sich umsah. Hinter ihm rutschte weiterer Sand in die neu entstandene Vertiefung. Es knackte wieder, und Awin sah einen schmalen Spalt, der von der Grube in die Ebene sprang. Er zog sich hastig einige Schritte zurück. Wo war er?
    Die Landschaft, die sich vor ihm auftat, glich keiner, die er je gesehen
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