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Der Sohn des Sehers 01 - Nomade

Titel: Der Sohn des Sehers 01 - Nomade
Autoren: Torsten Fink
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konnte. Sie blieb stehen und wartete. »Beeil dich, oder willst du
hierbleiben, wie deine Brüder dort?« Dabei zeigte sie auf die Skelette in den Wänden. Dann ging es weiter. Sie schritt, Awin rannte, und doch hätte er sie bald aus den Augen verloren, wenn sie nicht von Zeit zu Zeit stehen geblieben wäre. Plötzlich stand das Schleiermädchen im Gang. Sie schien sie zu erwarten. Die Hochmütige verlangsamte ihre Schritte nicht.
    »Warum hilfst du denen da, Schwester?«, fragte das Mädchen.
    »Geh mir aus dem Weg, Schwester«, erwiderte die andere streng und ging weiter.
    Awin rannte an dem Mädchen vorbei. Ihre Schleier waren aus einem Stoff, wie er ihn noch nie gesehen hatte, und schienen mehr zu entblößen als zu verdecken.
    »Komm!«, herrschte ihn die Frau an, als er eine Winzigkeit langsamer wurde.
    Das Mädchen lachte, drehte sich schnell im Kreis und verschwand in einer Kammer. Plötzlich war sie wieder viele Schritte vor ihnen im Gang und ließ sie herankommen. »Sie wird nicht erfreut sein, Schwester«, sagte sie.
    »War Sie das je, Schwester?«, lautete die wütende Antwort der Hochmütigen. Sie blieb stehen, sah das Mädchen durchdringend an und fragte: »Willst du dich uns anschließen?«
    Das Mädchen legte den Kopf schief. »Sie ist stark«, erwiderte sie und zog einen Schmollmund.
    »Und du bist schwach, Schwester! Dann geh und spiel mit dem Sand, aber steh uns nicht im Weg!«, rief die Hochmütige.
    Das Mädchen lachte und verschwand.
    Awin lehnte sich an die Wand. Er war die ganze Zeit gerannt. »Ich kann nicht mehr«, keuchte er.
    Die Hochmütige sah ihn von oben herab an. »Ich bin eine Närrin, dass ich auf euch vertraue.« Aber immerhin blieb sie stehen.

    Awin versuchte, wieder zu Atem zu kommen. »Wer ist deine Schwester?«, fragte er. »Und wer bist du?« Dicht neben ihm starrte ein Schädel aus der Wand.
    Die Frau sah ihn nachdenklich an. Ihr Gesicht war ebenmäßig, ja, sogar schön, aber es lag doch auch ein starker Zug von Hochmut darin. »Du kannst mich Isparra nennen. Und nun komm. Es ist nicht mehr weit.«

Sand
    AWIN GAB ES auf. Er bemühte sich nicht mehr, zu verstehen, was hier vor sich ging. Isparra? Hieß das, er versuchte gerade, mit dem Wind Schritt zu halten? Er folgte der Frau durch den Gang, der sich wie in einem Schneckengehäuse in einem endlosen Bogen dahinzog. Nach einer Weile fiel ihm auf, dass sie schon lange nicht mehr an einer steinernen Kammer vorbeigekommen waren. Es gab fast nur noch diese Wände aus leuchtend gelbem Sand, hart wie Stein und auf unheimliche Weise geschmückt mit den Skeletten von Kriegern. Dazwischen ragten vereinzelt Mauerbruchstücke aus Lehmziegeln hervor. Waren das die Reste der Stadt, die Uo einst zerstört hatte? Awin musste weiterrennen, denn Isparra wurde nicht langsamer, eher im Gegenteil. Schließlich erreichten sie eine weitere Kammer. Diese unterschied sich gänzlich von allem, was er bis dahin gesehen hatte. Sie war gemauert. Unter dem grauen, abblätternden Putz konnte Awin Reihen von roten Ziegeln sehen. Sie war groß, beinahe eher eine Halle als eine Kammer, und hatte zwei Zugänge. Durch einen war Awin eingetreten, und im anderen lehnte der Hüne und versperrte den Weg. Der schwarz haarige Knabe war bei ihm. Und noch jemand war dort - Merege. Sie saß mit angezogenen Knien in einer Ecke auf dem Boden und begrüßte Awin mit einem winzigen Nicken.
    »Ich denke nach wie vor, dass es gefährlich ist, Isparra«, sagte der Junge.
    »Ich bin es leid, Bruder«, lautete die schlichte Antwort.

    Der Hüne schnaubte verächtlich. »Ich verstehe dich nicht, Schwester. Das Land gehört uns!«
    »Land? Karge Wüste und Steppe finde ich, bestenfalls halb vertrocknete Felder, die diese armseligen Geschöpfe dem gepeinigten Boden abringen. Wo sind die grünen Wiesen, die Haine und Wälder, die wir früher durchstreiften?«
    »Es ist besser als nichts«, meinte der Hüne düster. »Und niemand macht uns dieses Reich streitig.«
    »Aber es ist nicht unser! Es gehört Ihr. Sie duldet uns nur, und wir können nirgendwo anders hin. Bist du die Ketten nicht leid, Nyet, mein Bruder?«
    »Sie sind sehr lang, Schwester«, antwortete Nyet verdrossen.
    »Und noch länger waren sie, als Sie schlief«, meinte das Mädchen, das plötzlich hinter Awin aus dem Nichts auftauchte.
    »Es ist der Schlaf der Erschöpfung, Schwester«, rief der Knabe, »und nur aus Schwäche lässt Sie uns Raum. Verzagt ist Sie, seit der Schwarze Gott Kalmon Sie mit dem Stein
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