Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Siegelring - Roman

Titel: Der Siegelring - Roman
Autoren: Andrea Schacht
Vom Netzwerk:
fühlte und mit allem und jedem grollte. Ich glaube, ich hatte mich in mein Zimmer verzogen und dröhnend laut die Musik angestellt. Was das Klima auch nicht gerade verbessert hat. Mein ganzes Inneres war pures, ätzendes Gift. Und das versprühte ich auch über unseren Vater, als er später zu
mir kam. Aber er war in solchen Dingen wirklich klug. Er machte es sich einfach auf meinem Bett bequem und fing an zu erzählen. Wie Annik die Töpferin ihren Jugendfreund Martius ermordet im Wald findet. Er sprach nicht laut, und die ersten Worte bekam ich nicht mit. Aber als ich merkte, dass er gar nicht mit mir schimpfte, sondern eine seiner Geschichten erzählte, stellte ich die Musik leiser und hörte zu. Ich war genauso gefesselt wie ihr, Cilly. Und ich habe nachher genauso geweint. Und alles Gift war aus meinem Körper herausgewaschen.«
    Rose lächelte warm.
    »Er war ein weiser Barde.«
    »Ja, er konnte Gefühle ebenso wecken wie besänftigen.«
    Cilly hatte sich wieder gefasst. Aber sie wollte nicht glauben, dass es sich bei der Geschichte, die wir nun seit über drei Monaten Stückchen für Stückchen zusammensetzten, nur um Fiktion handelte.
    Rose stand auf und zog die Vorhänge vor die Fenster. Der Dreikönigstag war ein düsterer, regnerischer Tag gewesen. Jedes Wochenende hatten wir in den vergangenen Monaten unsere Erinnerungen aufgefrischt. Manchmal kam es mir vor, als ob sich die Handlung und die Personen selbstständig gemacht hätten. Für andere Stellen konnten Rose und ich uns sehr deutlich an Situationen orientieren, in denen Julian uns die Szenen geschildert hatte. So wie ich es eben getan hatte. Das Ergebnis erstaunte uns selbst.
    »Ob er wohl gewusst hat, dass die einzelnen Bruchstücke zusammenpassen wie ein Puzzle, das ein vollständiges Bild ergibt?«, fragte Rose nachdenklich.
    »Ich weiß es nicht. Er selbst hat es natürlich geleugnet, aber jetzt sehe ich es irgendwie anders.« Und dann sprach
ich aus, was mich die ganze Zeit schon bewegt hatte: »Ach, Rose, ich wünschte mir wirklich, ich könnte ihn selbst fragen. Weißt du, dieser Ring …«
    Ich drehte an dem Siegelring mit der Pferdchengemme an meinem Finger.
    »Ob der tatsächlich Annik gehört hat?«, fragte Cilly, die sich noch nicht ganz distanziert hatte von dem fiktiven Geschehen.
    »Ich weiß nur, dass er Julians Ururgroßmutter gehört hat. Und die wird vor ungefähr hundertfünfzig Jahren gelebt haben. Das können wir bestimmt genauer herausfinden. Möglicherweise finden wir sogar heraus, wie sie zu dem Ring gekommen ist, denn es gab zu jener Zeit viele passionierte Sammler von Antiken, wahrscheinlich auch in diesem Strang der Familie. Aber selbst wenn wir die Herkunft des Ringes bis in das siebzehnte oder achtzehnte Jahrhundert verfolgen können, Cilly, werden wir seinen wahren Ursprung wohl nie erfahren. Europa hat seit dem ersten Jahrhundert einige mächtige Umwälzungen erfahren, der Ring kann wer weiß woher stammen. Die Völkerwanderung ist über das römische Reich hinweggerollt, die Kreuzzüge haben zu gewaltigen Umschichtungen gerade von Kulturgütern geführt, und in der Neuzeit haben die Revolutionen und auch die neuen Handelsbeziehungen dazu geführt, dass praktisch nichts an seinem Platz blieb. Warum also ein so kleiner Ring!«
    »Weil er am Matronenstein vergraben war!«, antwortete sie trotzig.
    »Cilly, Julian hat uns die Geschichte nie als eine erzählt, die auf beweisbaren Fakten beruht. Sie ist glaubhaft, aber nicht wahr. Wie jede gute Geschichte.«
    »Trotzdem, ich frage mich, ob die rausgefunden haben, wer den Martius umgebracht hat!«

    »Cilly lässt nicht locker«, lachte Rose. »Lass es endlich gut sein, Schwesterchen.«
     
    Aber nicht nur Cilly hatte jede Distanz zu dem Geschehen im römischen Rheinland verloren, auch ich befand mich in einem Zustand des Gefangenseins. Und als ich abends wieder alleine zu Hause saß, musste ich mir Mühe geben, meine aufgewühlten Gefühle zu sortieren. Das eine war die Erkenntnis der Nacht, die Marc nach Uschis verrückter Autobahnfahrt bei mir verbracht hatte. Als mir so seltsam klar wurde, wonach ich mich sehnte. Das andere aber war ein neues Verständnis für meinen Vater.
    Die Unfallursache war nach wie vor nicht vollends geklärt, der Fall hing noch in der Luft. War es ein fahrlässiger Unfall, hatte er unabsichtlich zu viele oder die falschen Tabletten genommen oder hatte er es in vollem Bewusstsein getan? Oder hatte gar irgendjemand ihm absichtlich diese Mittel
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher