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Der Selbstversorger (Einzeltitel) (German Edition)

Der Selbstversorger (Einzeltitel) (German Edition)

Titel: Der Selbstversorger (Einzeltitel) (German Edition)
Autoren: Wolf-Dieter Storl
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Großvater, der in besseren Zeiten Tuchfabrikant gewesen war, auf dem Schwarzmarkt ein Stück Butter gegen eine Rolle Tuch einzutauschen. Der ranzige Klumpen wurde im kühlen Keller wie ein wertvoller Schatz aufbewahrt. Für mich hatte er die Aura von etwas ganz Besonderem. Dass die Kostbarkeit ranzig war, wurde mir erst später in Oldenburg bewusst, als ich das erste Mal im Leben frische Butter zu essen bekam. Den Geschmack ranziger Butter mag ich übrigens noch immer.
    Im Frühling sammelten wir Brennnessel, Giersch, Löwenzahn, Kresse und anderes Grünzeug, um Leib und Seele beieinanderzuhalten. Derweil gruben mein Großvater und Herr Glasl, ein Bauer und Zimmermann, der mit seiner Familie als Flüchtling bei uns untergebracht war, den Rasen der Villa um. Bald war daraus ein Gemüseacker geworden. Die Gartenlauben, in denen man in guten Zeiten an sonnigen Sonntagen Kaffee getrunken, Kuchen gegessen und geplaudert hatte, wurden zu Hühnerhäusern und Hasenställen umgebaut. So hatte man nicht nur Eier oder ab und zu mal ein Stückchen Fleisch für die dünne Suppe, sondern auch Felle zum Warmhalten und wertvollen Mist für den Komposthaufen.
    Die Hühner wurden behandelt wie die Arbeiter in der Fabrik. Sie durften nicht einfach so ihre Eier in die Nestboxen legen – ihre Produktivität wurde genau kontrolliert! Der Großvater hatte ein ausgeklügeltes System erfunden, bei dem hinter jedem einzelnen Tier eine Klappe zufiel und das Huhn so lange in der Box gackerte, bis es wieder freigelassen wurde. So konnte er genau feststellen, welche Hühner am besten legten. Das Huhn, das am wenigsten Eier legte, war Kandidat für die nächste Hühnersuppe.
    Zum Glück gab es schon einige Obstbäume – Kirschen, Zwetschgen, Äpfel, Birnen –, auch Stachelbeeren und Johannisbeeren im Garten. An der Hauswand wuchs sogar ein Pfirsichbaum, aber im kalten Sachsen brachte er höchstens zwei oder drei reife Früchte hervor. Es war eine regelrechte Zeremonie, wenn der Großvater sie mit dem Messer teilte und jedem eine schmale Scheibe der köstlich süßen Frucht gab. Im Herbst sammelten wir fleißig Preiselbeeren, Heidelbeeren, Vogelbeeren und anderes Wildobst im Wald. Den Eichhörnchen machten wir Haselnüsse und Bucheckern streitig, und im Wald bei Klosterlausitz sammelten wir ganze Körbe voller Pilze. Meine Großmutter schien alle Pilze zu kennen. Stolz füllte ich mein Körbchen mit besonders großen Steinpilzen und Maronen und war sehr enttäuscht, als sich herausstellte, dass sie zu alt und voller Maden waren.

    Äpfel gab es auch in meiner Kindheit in jedem Selbstversorgergarten. Sie gedeihen zum Glück auch in rauen Gegenden wie bei uns im Allgäu, wenn man sich die richtigen Sorten in den Garten pflanzt.
    Ende 1947 „machten mir ’nüber“ in den Westen. Dort, in Oldenburg, wartete mein Vater auf uns, der gerade aus der Kriegsgefangenschaft entlassen worden war. Versteckt im Waggon eines langsamen Güterzugs, fuhr meine Mutter mit mir den ganzen Tag und durch die Nacht, bis wir irgendwo im taufrischen Morgengrauen durch einen Stacheldrahtverhau krochen. Nun waren wir in der britischen Besatzungszone. Um Mitternacht kamen wir in der stockfinsteren Stadt an. Als Allererstes bereitete mir die Tante, in deren Dachkämmerchen wir untergebracht wurden, eine Tasse heiße Milch. Ich musste erbrechen. Ich war einfach die fette Vollmilch nicht gewohnt, sondern nur Magermilch.
    Auch im Westen gingen die Menschen noch auf Hamstertouren, sammelten Beeren, Pilze und Bucheckern und legten überall kleine Selbstversorgergärten an. Zum Frühstück gab es immer eine Scheibe Brot mit Zuckerrübenmelasse von der Zuckerrübenfabrik. Insgesamt aber war die Versorgungslage in Westen nicht so schlecht wie im Osten. Und von Jahr zu Jahr wurde es besser.
    Der Überlebenskampf, der Hunger in den ersten Jahren meines Lebens hat mich sicherlich geprägt. Denn es war für mich immer wichtig zu wissen, was man essen kann. Essbare Wildpflanzen interessierten mich ebenso wie der Anbau von Nahrungspflanzen. Wahrscheinlich deswegen räumte ich in unserem Hinterhof in Oldenburg als Neun- oder Zehnjähriger den Schutt weg und legte mir meinen ersten Garten an. Ein winziger Gemüsegarten mit einem Kohlpflänzchen, einer Kartoffelstaude, etwas Petersilie und – weil sie mir so gut gefiel – einer Kanadischen Goldrute. Das Beet düngte ich mit den Pferdeäpfeln, die ich auf dem Schulweg aufsammelte und in meinem Ranzen verstaute. Es waren damals, ehe die
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