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Der Seher

Der Seher

Titel: Der Seher
Autoren: Robert Silverberg
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neunzig. Er ist von einem hellen Kokon lebenserhaltender Apparate umgeben; spitz zulaufende Arme strecken und beugen sich und kreisen um ihn herum wie Schwänze von Skorpionen, füllen ihn mit Enzymen, Hormonen, Stimulanzien, was auch immer. Ich habe ihn schon einmal kurz gesehen, in jener betrunkenen Nacht auf dem Times Square, als ich benommen und fassungslos auf dem Boden kauerte und in einer Sturmflut von Stimmen und Bildern ausflippte; aber nun führt mich die Vision ein wenig weiter als damals, so daß ich dieses zukünftige Ich nicht nur als kranken alten Mann wahrnehme, sondern als sterbenden alten Mann auf dem Weg hinüber: Er versinkt, er versinkt, das ganze fantastische Gitterwerk medizinischer Ausrüstung kann das schwache Leben in ihm nicht halten. Ich kann spüren, wie sein Pulsschlag verebbt. Ruhig, ganz ruhig, geht er. In das Dunkel. In den Frieden. Er ist sehr still. Noch nicht tot, sonst würde meine Wahrnehmung von ihm erlöschen. Aber fast. Fast. Und nun. Kein Empfang mehr. Friede und Schweigen. Ein guter Tod, ja.
    Ist das alles? Ist er wirklich tot da draußen, in fünfzig oder sechzig Jahren von heute, oder ist die Vision lediglich unterbrochen worden? Ich kann es nicht sicher wissen. Wenn ich nur jenseits dieses Augenblicks des Endes sehen, nur einen einzigen Blick hinter den Vorhang werfen könnte, um die Formalitäten des Todes zu beobachten, die Krankenschwestern, die mit ausdruckslosen Gesichtern die Apparate abschalten, das Tuch, das über das Gesicht gezogen wird, den Leichnam, der ins Leichenschauhaus gerollt wird. Aber es gibt keinen Weg, die Szene weiterzuverfolgen. Die Vorstellung endet mit dem letzten Fünklein Licht. Und doch bin ich sicher, daß dies mein Tod ist. Ich bin erleichtert und fast ein wenig enttäuscht. So wenig? Ein einfaches Erlöschen in hohem Alter? Daran ist nichts zu fürchten. Ich denke an Carvajal, dessen Augen leblos geworden waren, weil er sein Sterben zu oft gesehen hatte. Aber ich bin nicht Carvajal. Wie kann ein solches Wissen mir schaden? Ich erkenne die Unvermeidlichkeit meines Todes an; die konkreten Einzelheiten sind nicht mehr als Fußnoten. Einige Wochen später sehe ich die Szene noch einmal, und dann wieder und wieder. Immer gleich. Das Krankenhaus, die spinnenhafte Apparatur, das Versinken, das Dunkel, der Friede. So brauche ich also das Sehen nicht zu fürchten. Ich habe das Schlimmste gesehen, und es hat mir nichts getan.
    Aber dann wird alles von Zweifel zerfressen, meine neugefundene Zuversicht zerbricht. Ich sehe mich wieder in jenem großen Flugzeug, und wir gleiten auf die sechseckige künstliche Insel zu. Eine Stewardeß rennt bestürzt, alarmiert, durch den Mittelgang, gefolgt von einer schwellenden Wolke öligen schwarzen Rauchs. Feuer an Bord! Die Tragflächen schwanken heftig. Menschen kreischen. Unverständliche Rufe aus der Lautsprecheranlage. Gedämpfte, zusammenhanglose Instruktionen. Druck nagelt meinen Körper an den Sitz; wir stürzten auf das Wasser hinab. Hinab, hinab, und wir schlagen auf, ein unglaublicher, krachender Aufprall, und das Flugzeug bricht auseinander; immer noch angeschnallt falle ich kopfüber in die kalten, dunklen Tiefen. Das Meer schluckt mich, und ich weiß nichts mehr.
    Die Soldaten marschieren in finsteren Kolonnen durch die Straßen. Vor dem Gebäude, in dem ich lebe, halten sie an; sie besprechen sich; dann bricht eine Abteilung in das Haus. Ich höre sie auf der Treppe. Sinnlos, mich zu verstecken. Sie werfen die Tür auf, brüllen meinen Namen. Mit erhobenen Armen begrüße ich sie. Ich lächle und erkläre ihnen, daß ich ohne Widerstand mitkommen werde. Aber dann – wer weiß, warum? – dreht sich einer von ihnen, ein sehr junger Mann, ein Junge fast noch, plötzlich herum und richtet seine armbrustähnliche Waffe auf mich. Ich kann nur noch den Mund aufreißen. Dann kommt schon der grüne Strahl, und Dunkelheit hinterher.
    »Das ist er!« schreit jemand, hebt einen Knüppel hoch über meinen Kopf und läßt ihn mit furchtbarer Gewalt niedersausen.
    Sundara und ich sehen zu, wie Nacht sich über den Pazifik senkt. Die Lichter von Santa Monica funkeln vor uns. Zaghaft, behutsam, lege ich meine Hand auf die ihre. Und in diesem Augenblick spüre ich einen stechenden Schmerz in meiner Brust, ich wanke, kippe um, trete rasend um mich, stoße den Tisch um, ich schlage mit den Fäusten auf den dicken Teppich ein, ich kämpfe um mein Leben. In meinem Mund ist der Geschmack von Blut. Ich kämpfe um mein
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