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Der Seher

Der Seher

Titel: Der Seher
Autoren: Robert Silverberg
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widerlichen, blutgierigen Faschistenschwein zuhören?« entgegnet sie.
    Eine Party ist im Gange. Schrille, unvertraute Musik, seltsam goldener Wein, der üppig aus doppelhalsigen Flaschen fließt. Die Luft ist von blauen Rauchschwaden geschwängert. In einer Ecke des überfüllten Raums halte ich Hof, rede dringlich auf eine feiste junge Frau mit sommersprossigem Gesicht und auf einen der jungen Männer ein, der mit mir jenes kleine Landhaus besichtigt hatte. Aber meine Stimme wird von lärmender Musik überlagert, und ich verstehe nur Fetzen und Bruchstücke dessen, was ich sage; ich höre Wörter heraus wie Fehlkalkulation und Überladung, Demonstration und bessere Verteilung, aber der Rest ist Kauderwelsch, und das Gespräch bleibt unverständlich. Der Stil der Kleidung ist merkwürdig, lose, unregelmäßige Tücher, die mit Flecken und Streifen anderer Stoffe bedeckt sind. In der Mitte des Raumes tanzen ungefähr zwanzig Menschen mit gespenstischer Intensität, hüpfen in einem losen Kreis, schlagen die Luft wie besessen mit Ellbogen und Knien. Sie sind nackt; sie haben ihre Körper glänzend purpurn gefärbt; sie sind vollständig haarlos, Männer wie Frauen von Kopf bis Fuß gänzlich enthaart: Wenn die hüpfenden Genitalien und klatschenden Brüste nicht wären, könnte man sie leicht für Plastikpuppen halten, die in eine zuckende, spasmodische Nachäffung des Lebens verfallen sind.
    Eine schwüle Sommernacht. Ein Knall, noch einer, noch einer. Feuerwerkskörper explodieren vor dem schwarzen Himmel über der Jersey-Seite des Hudson. Leuchtraketen sprenkeln Chinesisches Feuer in den Himmel, rot, gelb, grün, blau, blendende Streifen und Sternergüsse, eine flammende Schönheit nach der anderen, begleitet von beängstigendem Zischen, Knallen, Dröhnen und Pfeifen, Höhepunkt auf Höhepunkt, und dann, als man gerade annimmt, die Herrlichkeit werde jetzt in Stille und Dunkelheit hinein vergehen, kommt die letzte, die erstaunlichste pyrotechnische Tollheit, ein großes, doppeltes Bild: eine amerikanische Flagge, die spektakulär über uns hängt und jeden Stern erkennen läßt, und, aus der Mitte von Old Glory hervorexplodierend, das Gesicht eines Mannes, in überraschend realistischen Fleischfarben gezeichnet. Das Gesicht ist das Gesicht von Paul Quinn.
    Ich bin an Bord eines großen Flugzeugs, eines Flugzeugs, dessen Flügel von China bis nach Peru zu reichen scheinen, und durch das Bullauge neben mir blicke ich auf ein endloses graublaues Meer, auf dem sich die Sonne in grell-blendender Helligkeit widerspiegelt. Ich habe den Sicherheitsgurt angeschnallt, warte auf die Landung, und nun kann ich unser Ziel ausmachen: eine gewaltige sechseckige Plattform, die steil aus dem Meer aufsteigt, eine künstliche Insel, die in ihren Winkeln so symmetrisch ist wie eine Schneeflocke, eine Betoninsel, die von flachen Gebäuden aus rotem Ziegelstein überzogen und von dem langen, weißen Pfeil der Landebahn in zwei Hälften geteilt wird, eine Insel, die vollständig allein ist in dieser ungeheuren See, an deren sechs Seiten Tausende Kilometer von Leere grenzen.
    Manhattan. Herbst, kühl, der Himmel dunkel, die Fenster über mir glühend. Vor mir ein gigantischer Turm, der sich neben der ehrwürdigen Bibliothek der Fifth Avenue erhebt. »Der größte der Welt«, sagt jemand hinter mir, ein Tourist zum anderen, näselnder Akzent aus dem Westen. Und das muß er wohl sein. Der Wolkenkratzer füllt den Himmel. »Alles Büros der Regierung«, fährt der Westerner fort. »Kannst du das fassen? Zweihundert Stockwerke, und alles Büros der Regierung. Mit einem Palast für Quinn obenauf, heißt es. Da wohnt er, wenn er in die Stadt kommt. Ein gottverdammter Palast, wie für einen König.«
    Was ich besonders fürchte, während diese Visionen auf mich eindringen, ist meine erste Begegnung mit der Szene meines eigenen Todes. Werde ich davon zerstört werden, frage ich mich, so wie Carvajal zerstört wurde – wird ein Blick auf mein letztes Stündlein allen Schwung und alle Lebensfreude aus mir vertreiben? Ich warte, frage mich, wann es kommen wird, fürchte den Augenblick und sehne ihn doch herbei, will das schreckliche Wissen in mich aufnehmen und es hinter mich bringen, und als die Szene kommt, kommt sie als das Gegenteil eines Höhepunkts, als komische Enttäuschung. Ich sehe einen verblichenen, müden alten Mann in einem Krankenhausbett, hager und verbraucht ist er, vielleicht fünfundsiebzig Jahre alt, vielleicht achtzig oder sogar
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