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Der Seher

Der Seher

Titel: Der Seher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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ein verwandeltes New York, ein New York der Jahrtausendwende, New York auf dem Gipfel seiner Saturnalien.
    Saturnalien, ja, darum handelte es sich, eine irre Orgie, eine Raserei ekstatischer Geister. Jede Droge aus dem psychedelischen Arsenal wurde an Straßenecken angeboten, und der Verkauf schien lebhaft. Niemand ging mehr auf gerader Linie. Sirenen heulten überall, als das Treiben toller wurde. Ich selbst nahm keine Drogen außer der uralten, Alkohol, den aber überaus reichlich, in einer Taverne nach der anderen, ein Bier hier, einen schrecklichen Whisky dort, etwas Tequila, etwas Rum, einen Martini, sogar dunklen, süßen Sherry. Ich war benommen, aber nicht erledigt: Irgendwie gelang es mir, aufrecht zu bleiben, und mein Geist schien mit der gewohnten Klarheit zu funktionieren, während ich beobachtete und registrierte.
    Sichtbar stieg die Tollheit von Stunde zu Stunde. In den Bars waren Nackte um neun Uhr noch selten, aber um halb zehn tummelte sich nacktes, verschwitztes Fleisch überall: wippende Brüste, wackelnde Hintern, klatscht in die Hände, hoch mit den Füßen, und jetzt alle im Kreis. Um halb zehn sah ich die ersten Leute auf der Straße vögeln, um zehn wurde beinah in jedem Hauseingang gebumst. Eine Unterströmung von Gewalttätigkeit war den ganzen Abend über gegenwärtig gewesen – Fenster wurden eingeschlagen, Straßenlampen zerschossen –, aber nach zehn schwoll sie rasch an: Es gab Schlägereien, einige freundschaftlich, einige blutrünstig, und an der Ecke von Siebenundfünfzigster Straße und Fifth Avenue war eine Massenschlacht im Gange, Hunderte von Männern und Frauen schienen wahllos aufeinander einzuprügeln. Überall beschimpften sich Autofahrer lautstark gegenseitig, und ich hatte das Gefühl, daß einige Fahrer absichtlich ihre Wagen in andere hineinjagten, aus purer Freude an der Zerstörung. Gab es Mord und Totschlag? Gewiß. Vergewaltigungen? Tausende. Verstümmelungen und andere Monstrositäten? Ich zweifle nicht daran.
    Und wo waren die Polizisten? Ab und zu sah ich sie: einige, die verzweifelt versuchten, die Wogen des Chaos zu bändigen, andere, die nachgaben und sich vom Chaos mitreißen ließen, Polizisten mit geröteten Gesichtern und glasigen Augen, die glücklich sich in Schlägereien hineinschmissen und sie zu brutalen Gefechten eskalierten, Polizisten, die von den Straßenhändlern Drogen kauften, Polizisten, die, nackt bis zur Hüfte, in Bars sich nackte Mädchen griffen, Polizisten, die grölend mit ihren Knüppeln Windschutzscheiben einschlugen. Der allgemeine Wahnsinn war ansteckend. Nach einer Woche apokalyptischer Anbahnung, einer Woche grotesker Spannung hatte niemand seine Vernunft sehr fest im Griff.
    Die Mitternacht fand mich auf dem Times Square. Der alte Brauch, von einer Stadt im Niedergang schon lange nicht mehr ausgeübt: Tausende, Hunderttausende, Schulter an Schulter zwischen Sechsundvierzigster und Zweiundvierzigster Straße, singend, brüllend, küssend, schunkelnd. Plötzlich schlug die Stunde. Grelle Scheinwerfer durchbohrten den Himmel. Die Spitzen der Bürotürme erglänzten in Flutlicht. Das Jahr 2000! Das Jahr 2000! Und auch mein Geburtstag war gekommen! Herzlicher Glückwunsch zum Geburtstag! Glücklicher, glücklicher, glücklicher Lew!
    Ich war betrunken. Ich war von Sinnen. Die universelle Hysterie tobte in mir. Meine Hände packten die Brüste einer Frau und quetschten sie, ich preßte meinen Mund auf einen Mund und spürte, wie ein feuchtheißer Körper sich an meinen drängte. Die Menge spülte uns auseinander, und ich trieb in der Menschenflut, lachend, nach Atem ringend, umarmend, hüpfend, fallend, stolpernd, beinahe überrannt von tausend Füßen.
    »Feuer!« schrie jemand, und wirklich tanzten Flammen hoch auf einem Gebäude an der Vierundvierzigsten Straße. So wunderbar leuchtendes Orange – wir schrieen und klatschten Beifall. Alle waren wir Nero heute nacht, dachte ich, und wurde weitergetrieben, südwärts. Die Flammen konnte ich nicht mehr sehen, aber der Geruch von Rauch breitete sich in der Gegend aus. Glocken läuteten. Noch mehr Sirenen. Chaos, Chaos, Chaos.
    Und dann war mir, als ob eine Faust auf meinen Hinterkopf einschlüge, und an einer offenen Stelle fiel ich betäubt auf die Knie, bedeckte mein Gesicht mit den Händen, um den nächsten Schlag abzuwehren, aber es kam kein nächster Schlag, nur eine Flut von Visionen. Visionen. Ein Sturzbach von Bildern donnerte durch meinen Geist. Ich sah mich alt und schwach,

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