Der Seher
hustend in einem Krankenhausbett, eine glänzende, spinnenhafte Batterie medizinischer Apparate um mich herum; ich sah mich in einem klaren Bergsee schwimmen; ich sah mich von einer wütenden Brandung auf eine tropische Küste geschleudert werden. Ich spähte in das geheimnisvolle Innere eines riesigen, unbegreiflichen, kristallhaften Mechanismus. Ich stand am Rande eines Lavafeldes, beobachtete, wie glutflüssige Massen brodelten und platzten, wie am ersten Morgen auf Erden. Farben bestürmten mich. Stimmen flüsterten zu mir, flüsterten Bruchstücke von Worten und zerrissene Sätze. Das ist ein Trip, sagte ich mir, ein Trip, ein Trip, ein sehr schlechter Trip, aber selbst der schlechteste Trip endet einmal, und zitternd kauerte ich mich zusammen, versuchte, dem Alptraum keinen Widerstand zu leisten, sich ihn in mir austoben zu lassen. Es mochte Stunden gedauert haben – vielleicht auch nur eine Minute. In einem klaren Augenblick sagte ich mir: Ich sehe, so geht es los, wie ein Fieber, wie ein Ausbruch von Wahnsinn. Ich weiß noch, daß ich mir so zuredete.
Ich erinnere mich auch, daß ich kotzte, des Abends vermischten Alkohol in schnellen, schweren Zuckungen ausspie und danach neben der stinkenden Pfütze hockte, schwach, zitternd, unfähig, mich zu erheben. Und dann der Donner, Zeus’ majestätischer, keine Widerrede duldender Groll. Eine große Stille folgte diesem einen entsetzlichen Donnerschlag. Überall in der Stadt kamen die Saturnalien zum Stillstand: Die New Yorker hielten inne, erstarrten, wandten ihre Augen in Verwunderung und Schrecken zum Himmel. Was nun? Donner in einer Winternacht? Würde sich das Meer erheben und aus unserem Spielplatz ein Atlantis machen? Minuten nach dem ersten Donner folgte ein zweiter, aber kein Blitz, und dann, nach einer Pause, der dritte; dann kam der Regen, sanft zuerst, aber bald war es ein Wolkenbruch, ein warmer Frühlingsregen, der uns in das Jahr 2000 spülte. Unsicher stellte ich mich auf die Beine, und nachdem ich den ganzen Abend keusch meine Kleider anbehalten hatte, zog ich mich nun aus, stand nackt auf dem Broadway, die Füße flach auf dem Pflaster, den Kopf nach oben gewandt, und ließ den Guß Schweiß, Tränen und Überdruß von mir waschen, ließ ihn in meinen Mund laufen, um den üblen Geschmack des Erbrochenen auszuspülen. Ein wundersamer Augenblick. Aber bald fror ich. April war vorbei, Dezember kehrte zurück. Mein Geschlecht schrumpelte zusammen, meine Schultern verspannten sich. Zitternd zog ich meine klitschigen Kleider an und begann, wieder nüchtern, durchnäßt, jämmerlich, ängstlich, in jeder Toreinfahrt Räuber und Halsabschneider wähnend, den langen Schlurfmarsch durch die Stadt. Alle zehn Blocks, die ich passierte, schien die Temperatur um fünf Grad zu stürzen; als ich die East Side erreichte, fror ich hundsgemein, und als ich die Siebenundfünfzigste Straße überquerte, hatte sich der Regen in Schneetreiben verwandelt. Der Schnee blieb liegen, bedeckte die Straßen, die Automobile und die hingestreckten Körper der Besoffenen, der Bewußtlosen und der Toten mit feinem Puder. Es schneite mit voller winterlicher Bösartigkeit. Als ich mein Apartment erreichte, war es fünf Uhr früh, am Morgen des 1. Januar 2000 A. D. Ich ließ meine Kleider auf den Boden fallen und sank nackt ins Bett, fröstelnd, wund und weh, ich zog meine Knie an die Brust und war mir halbwegs sicher, vor Morgengrauen zu sterben. Vierzehn Stunden vergingen, bevor ich erwachte.
39
Was für ein Morgen nach dem Fest! Für mich, für Sie, für ganz New York! Erst am Abend jenes 1. Januar war das volle Ausmaß der Verheerung, die das tolle Treiben in der Nacht zuvor angerichtet hatte, bekannt: wie viele Hunderte von Bürgern bei den Gewaltausbrüchen, bei törichten Waghalsigkeiten oder einfach in der plötzlichen Kälte umgekommen waren, wie viele Läden geplündert, wie viele öffentliche Monumente geschändet, wie viele Brieftaschen geklaut, wie viele Frauen und Kinder mißbraucht worden waren. Hatte seit der Plünderung von Byzanz irgendeine Stadt je eine solche Nacht erlebt? Die Bevölkerung war Amok gelaufen, und niemand hatte versucht, der Raserei Einhalt zu gebieten, niemand, nicht einmal die Polizei. Erste Meldungen wollten wissen, daß sich die meisten Beamten an den Lustbarkeiten beteiligt hatten, und als genaue Nachforschungen während des Tages voranschritten, ergab sich, daß es in der Tat so gewesen war: In der Hitze des Augenblicks hatten die
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